„Das tue ich mir nicht noch mal an!“

 

Obwohl schon fast ein halbes Jahrhundert verheiratet – dieser Satz gehört nicht zu meinem Sprachgebrauch. Gesagt habe ich die Worte, als wir nach zwei Tagen Trek von Chharka kommend das Basiscamp des Tuje-Passes erreicht hatten. Meine Mitreisende Anja – immerhin 19 Jahre jünger – und ich waren dermaßen fix und fertig, dass es uns völlig egal war, in welch dreckigem Mulistall Jangbu unsere Zelte aufbaute: Hauptsache, nicht mehr bewegen!

   

Die Planung hatte ganz anders ausgesehen…

Seit jeher gilt die Zeit von Oktober bis Februar für Nepalbesucher als die beste Reisezeit: Der Himmel unbewölkt, die Fernsicht auf die Eisriesen des Himalaya ungetrübt und alles bleibt trocken. So habe ich es selbst mehrfach erlebt – bis zur Projektreise in 2021. Die Elemente hatten sich so verhalten, wie es in sämtlichen Klimatabellen stand und uns herrliche Aussichten und trockene Füße beschert. Bis dann auf dem Rückweg unmittelbar vor den Pässen heftiger Schneefall einsetze und innerhalb weniger Stunden alles veränderte. Das Ergebnis war eine eindrucksvolle, aber sehr teure Evakuierung per Hubschrauber (siehe dazu auch den Bambusbrief Nepal Nr. 5)

„Global warming seems to have reached Dolpo, too!“ hatte Samdup, Chairman unserer Partnerorganisation „Dolpo Tomorrow“ und Partner vor Ort, damals als Erklärung parat.

Und mir empfohlen, zukünftig besser im August zu kommen. Diese Jahreszeit kenne ich nur als absolut zu vermeiden, herrscht dann doch in Nepal der Monsun mit beachtlichen Regenmengen und schwül-warmer Atmosphäre. Das sei so auch, im Kathmandu Tal und den niedrigeren Lagen des Landes, hatte mich Samdup aufgeklärt. Upper Dolpo dagegen werde vom Monsun verschont, läge es doch hinter den hohen Reihen der Sechs- bis Achttausender, und die Wolken, von Süden kommend, würden bereits jenseits der Bergkämme ihre Regenlast verlieren. „Wenn du im August kommst, erlebst du Dolpo grün, warm und trocken – höchstens fällt mal ein kurzer Schauer.“ So sprach der eingeborene Experte – also Flüge gebucht (problemlos, kein Tourist fliegt zu der Zeit nach Nepal) und auf ins Land, „Wo die Berge jung sind“!

Wir sind zu dritt im Flieger der Qatar Airways von Düsseldorf über Doha nach Kathmandu – neben Anja und mir ist auch mein langjähriger Freund Jangbu Sherpa dabei. Jangbu war wie seit 20 Jahren auch im Jahr 2023 drei Monate in Deutschland gewesen, um alte Freunde zu besuchen und neue zu gewinnen. Jangbu würde auch diesmal den gesamten Reiseverlauf innerhalb Nepals organisieren – eine umfangreiche Logistik. Einiges hatte er schon vor seiner Abreise eingestielt, vieles von Deutschland aus mit Hilfe bewährter nepalesischer Freunde geregelt. Dennoch blieb für ihn in den wenigen Tagen, die wir in Kathmandu auf unseren Charterflug nach Juphal würden warten müssen, jede Menge Details zu organisieren. (Zum geplanten Verlauf einer Anreise nach Chharka siehe auch den Bambusbrief Nepal Nr. 5.)

Auch für Jangbu neu diesmal: Seine Frau Dolma wird uns begleiten! Dolma war noch auf keinem einzigen Trek ihres Mannes mitgekommen, dabei ist Jangbu immerhin ein namhafter Trekkingführer in der Szene mit einer beachtlichen Erfahrung in allen Ecken des Landes. Und obwohl sie das Trekkerleben nur aus den sparsamen Berichten von Jangbu kennt, hatte sie diesmal spontan zugesagt – mit durchaus gemischten Gefühlen, wie sie uns später verriet.

Und dann beginnt es zu regnen in Kathmandu. Kein „Starkregen“, aber ein stetiger, warmer Landregen, wie man ihn im Münsterland kennt, nur wärmer. Diese Tropfen fallen aus Wolken, die das ganze Land bedecken, wie wir vom freundlichen und jetzt mitleidigen Personal des Hotel Utse erfahren. Es handle sich dazu noch um eine „stabile Wetterlage“ – mit anderen Worten: Das bleibt jetzt erstmal so! Jangbu teilte uns mit, der Charterflug sei abgesagt worden; bis auf Weiteres mit Flügen nach Juphal nicht zu rechnen! Shit happens!

Was tun? Weiter warten ist zu ungewiss und ein Helikopter völlig außer Frage – die einzige Option ist ein Linienflug nach Pokhara (wird von großen Maschinen mit Blindflugeinrichtung durchgeführt). Pokhara ist die zweitgrößte Stadt Nepals, von dort würden wir mit zwei gemieteten Jeeps in 10-12 Stunden nach Jomsom fahren. Wieder ist die Jahreszeit dafür von Vorteil: Da es keine Touristen gibt, kann Jangbu problemlos zwei Plätze für Anja und mich buchen (er selbst fährt mit Dolma, dem Küchenhelfer Njingsan und jeder Menge Ausrüstung mit einem Minibus.) Während unser Flug kurze 40 Minuten dauert, sind unsere Freunde 9 Stunden unterwegs – über schlechte Straßen. Gegen Abend treffen wir uns im bewährten „Diamond Lake Hotel“ zum Bier, Marke „Ghorka extra strong“.

Der nächste Tag beginnt mit einem Großeinkauf. Jangbu als Sirdar, dem Chef des Treks, ist für die Verpflegung verantwortlich und kauft auf dem Markt alles ein, was wir in den nächsten Wochen brauchen werden. Während der Woche in Chharka wollen wir nicht der Schule oder den Bewohnern zur Last fallen, also muss auch für diese Zeit alles besorgt und verstaut werden. Hier zeigt sich einmal wieder Jangbus Erfahrung: ob Tomaten, Eier, Bratöl oder Gemüse – immer findet er das beste Preis-Leistungsverhältnis. Die Marktfrauen, mit allen Wassern gewaschen, merken schnell, dass dieser freundliche Sherpa genau weiß, was die Rupie wert ist und sich nicht über den Tisch ziehen lässt. Jangbu erklärt uns auch, wieviel teurer alle Produkte werden, je weiter man sich von Pokhara wegbewegt. So kostet Flaschengas, mit dem überall gekocht wird, in Jomsom das Doppelte.

Schließlich sind die beiden Jeeps beladen und jede(r) hat einen Platz gefunden. Anja und ich haben unsere anfängliche Enttäuschung wegen des ausgefallenen Fluges gegen freudige Erwartung getauscht: 10 Stunden durch Nepals Landschaften gefahren zu werden, hat schließlich auch seinen Reiz!

Das Wetter ist perfekt: Die Sonne scheint bei angenehmen 20 Grad und Regen ist nicht in Sicht. Bei der Fahrt durch Pokhara fällt mir der Unterschied zu früheren Besuchen im Oktober deutlich auf: man sieht so gut wie keine westlichen Touristen. Für die Monsunzeit ist das normal, aber auch die Buchungszahlen für die kommende Herbstsaison haben noch lange nicht das Niveau der Vor-Corona-Zeit erreicht. Wie in Kathmandu haben viele kleinere Geschäfte den Lockdown nicht überlebt…

Noch innerhalb der Stadtgrenze wird der Zustand der Straße schlecht und dann immer schlimmer. Schlagloch folgt auf Schlagloch, oft voll mit Regenwasser, so dass die Tiefe schlecht abzusehen ist; dabei ist der Verkehr heftig: „Rushhour“, meint der Fahrer und nimmt’s gelassen. Dieser Bereich von Pokhara sei seit Jahren eine einzige Baustelle und man könne keinerlei Entwicklung erkennen.

Als wir aus der Stadt raus sind, wird die Straße fast gut und wir rollen entspannt durch eine sattgrüne Hügellandschaft, vorbei an der längsten Hängebrücke Nepals (567m lang, 122m hoch) und kehren mittags in einem Straßenrestaurant ein, das der Fahrer kennt. Es ist hier nicht anders als auf Deutschlands Autobahnen: Willst du gut essen, geh dahin, wo die meisten Trucker halten! Es gibt – klar, Dal Baht Tarkari, Nepals Nationalgericht: Linsen, Reis, Gemüse. Dieses hier entstammt aber der Thakali-Küche und ist mit vielen kleinen Extras garniert, wie Yoghurtsauce und einer höllisch scharfen roten Paste… Farbabbeizer, wahrscheinlich!

Die Straße steigt steil bergan, der wilde Fluss Kali Gandaki kommt uns dabei an der rechten Seite entgegen; beim Anblick seiner milchkaffeebraunen Monsunfluten lässt es sich aus dem sicheren Auto angenehm gruseln.

Dann ist plötzlich Schluss mit Lustig: Stau! Unfall? „Landslide“, meint der Fahrer lakonisch; ein Erdrutsch hat die Straße versperrt. Nichts geht mehr und aus Autos und Bussen steigen neugierige Passagiere und wollen sehen, was da los ist. Ich brauche nur wenige Meter vorzugehen, dann sträubt sich mir das Nackenfell: Ein Felsbrocken von der Größe eines SUVs liegt mitten auf der Straße! Er muss kurz zuvor vom linksseitigen Berghang gestürzt sein und kam auf der Straße – unserer Straße! – zum Liegen. Was hätte, wäre, wenn… will man nicht zu Ende denken! In Fahrtrichtung vor dem Trumm ist noch jede Menge Geröll abgerutscht und von der Straße ist erst mal nichts mehr zu sehen.

Es stehen jetzt wohl an die hundert Leute vor dem Felsblock und es wird diskutiert, palavert und gestikuliert. Auffällig ist dabei, dass niemand die Geduld verliert, nervös auf die Uhr blickt oder gar hupt! Der Grund für diese Gelassenheit ist nicht etwa ein fortgeschrittener Grad von Erleuchtung, sondern schlichtweg Gewöhnung! „Das kommt hier immer wieder vor in dieser Jahreszeit“, erklärt uns Jangbu, „Manchmal warten die Leute zwei, drei Tage“. Die „Straße“, immer schon nur eine unbefestigte Piste, ist aus dem Berg herausgebaggert worden; Dem Fluss gegenüber ragt ein Steilhang hinauf, der gänzlich ungesichert ist. In der Schweiz kann man studieren, was da zu tun wäre: Erst einmal den Winkel des Berges abflachen, dann Stahlnetze über Hang spannen und mit einbetonierten Spezialdübeln sichern! Von eidgenössischem Standard ist man in Nepal Lichtjahre entfernt. Hier regiert die Natur: Anhaltender Regen weicht den Berg auf, bis einzelne Felsbrocken sich lösen oder ganze Partien komplett abrutschen. Hier war beides passiert.

Das Glück im Unglück: Wenige hundert Meter voraus gibt es eine Art Depot für schweres Gerät: Mehrere Bagger und Bulldozer stehen da und warten auf ihren Einsatz! Es dauert keine halbe Stunde, bis zwei dieser dinosauriergleichen Monster den Betrieb aufnehmen. Man sieht sofort, dass die Maschinisten Meister ihres Faches sind: Nach nur einer Stunde haben sie den Schutt und das Geröll den Abhang hinunter in den Fluss geschoben und die inzwischen lange Autoschlange setzt sich wieder in Bewegung. Ich hätte gerne noch gesehen, wie der dicke Felsbrocken in den Kali Gandaki rollt, aber der wird erstmal einfach umfahren.

Unsere Unbefangenheit hat einer angespannten Aufmerksamkeit Platz gemacht. „It happens all the time“, hatte Jangbu gesagt… reizvoll fanden wir die Fahrt bislang – gefährlich ist sie!

Kurze Zeit später das gleiche Szenario: plötzlicher Stillstand, die Menschen verlassen ihre Autos – Bergrutsch die Zweite! Diesmal sind es „nur“ Massen von Schlamm, die die Straße unter sich begraben und wieder dauert es nicht lang, bis sich Erdschieber ans Werk machen und die Blechkarawane zieht weiter.

Wir wollen die Fahrt inzwischen nur noch hinter uns bringen und selbst beeindruckende Naturschauspiele wie gewaltige Wasserfälle, die von dschungelgrünen Höhen zu Tal stürzen, lassen uns nicht vergessen, auf welch dünnem Eis wir hier unterwegs sind.

Und dann geschieht es wieder! Zum dritten Mal staut sich der Verkehr… und diesmal ist etwas sehr anders: Die Schlange der stehenden Autos vor uns ist lang, sehr lang. Wir steigen aus und müssen wohl über hundert Autos und mehrere Bussen und LKW passieren, bis wir die Ursache erkennen. Ein großer Kettenbagger steht mitten in einem Zufluss des Kali Gandaki und bewegt tonnenschwere Steinquader. Polizei ist vor Ort und schickt die Gaffer – uns auch – immer wieder zurück, mit Gesten in Richtung Bergkamm, wo sich immer wieder kleinere Steine und Erdmassen lösen und zur Straße rutschen. Jangbu spricht mit mehreren Leuten und berichtet uns, dass die ersten in der Schlange bereits seit dem Morgen hier warten würden – inzwischen ist es Nachmittag! Der Erdrutsch hatte die Brücke über den Zufluss weggerissen und jetzt versucht der Bagger, so viele Steinplatten im Fluss zu platzieren, dass eine Art Furt für die Autos entsteht! Auch auf der anderen Seite stauen sich die Autos seit dem Morgen und die Menschen rufen sich gegenseitig Nachrichten zu. Und wieder regt sich keiner auf, alle akzeptieren das, was eh nicht zu ändern ist.

 

Nach zwei Stunden Warten gibt der Polizist das erlösende Zeichen: Weiterfahren! Der Bagger hat das Flussbett verlassen und hält sich am Ufer bereit, falls… ja, falls was? Die Steinplatten, die der Baggermann virtuos an die hoffentlich richtigen Stellen bugsiert hat, werden vom Fluss überspült und sind nicht zu sehen, der richtige „Weg“ ist nur zu schätzen. Gespannt verfolgen wir den ersten Jeep: bis zu den Achsen im Wasser gibt der Fahrer Gas und schafft es scheinbar problemlos ans andere Ufer! Einige applaudieren und der Baggerfahrer bekommt „Daumen hoch!“ -Zeichen von uns… Unser Chauffeur meint, jetzt gebe es wohl keine Probleme mehr, die gefährlichen Passagen lägen hinter uns. Und tatsächlich, das Tal wird breiter, die Piste hat immer wieder Strecken mit Asphalt zwischen den Löchern und kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Jomsom – nach 11 Stunden Fahrt und drei Erdrutschen halten wir vor dem Tillicho Guesthouse. Jeeps abladen, Zimmer beziehen, Abendessen bestellen – die Anspannung löst sich, Bier und Rakschi helfen dabei und wir fallen ins Bett!

Jomsom ist ein für die Regionen Mustang und Dolpo wichtiger Ort, hauptsächlich wegen des Flugplatzes. Hier können kleine Maschinen vom Typ Twin Otter landen und der Ort wird in der Saison häufig von Pokhara aus mit Trekkingtouristen angeflogen.  Entsprechend viele Guesthouses und Hotels gibt es hier, Bäckereien und sogar die eine oder andere Bar für Après Trek. Die Armee hat hier einen Stützpunkt, Bus- und Jeep-Agenturen ihre Büros und seit kurzem gibt es das „Zentrum für Dorfentwicklung“ in einem monströsen Riesenbau!

Wir bepacken einen großen Pickup und verlassen Jomsom in Richtung auf unser heutiges Etappenziel, das kleine Dorf Sangda. Normalerweise würde die Route durch den Ort Kagbeni führen, aber wir biegen kurz vorher ab und folgen einer Nebenpiste ins Vorgebirge. Das aus einem sehr praktischen Grund: Für den „Eintritt“ ins Dolpo verlangt die Regierung pro Person 500 $, für eine Dauer von 10 Tagen! Jeder Tag darüber hinaus muss extra bezahlt werden! Unsere Eintritte haben wir schon vorab entrichtet, um überhaupt ein Permit zu bekommen. In Kagbeni lauert ein Posten der Tourismusbehörde, um diese Eintrittskarten zu kontrollieren und das Datum einzustempeln. Beim Verlassen des Dolpo ist der Zettel wieder vorzuweisen und es wird geprüft, was man nachzahlen muss. Diesen lästigen Umstand vermeiden wir mit unserer unorthodoxen Streckenführung!

Das Wetter meint es wieder gut und wir genießen die Fahrt, stetig bergan bis wir Sangda auf über 3000m erreichen. Im Prinzip endet hier die Piste. Uns wird nochmal deutlich, welche Logistik hinter sämtlichen Baumaßnahmen in Chharka Bhot steckt: Jeder Sack Zement, jede Platte Wellblech, der ganze Bewährungsstahl, die Medizin für Schwester Kunsang, die Schulmöbel – einfach alles, das Samdup in Kathmandu eingekauft und verpackt hat, musste diesen Weg nehmen! Von Kathmandu per LKW bis Jomsom, dann per Jeeps bis Sangda und von hier noch 10 km auf einem Traktoranhänger bis zu einem Lagerplatz am Fuß der eigentlichen Berge!

 

Die erste Zeltübernachtung steht an im Innenhof der einzigen Lodge im Dorf und wir sehen dem nächsten Tag mit Spannung entgegen – dann geht’s nämlich auf die Pferde!

 

Der Tag beginnt betriebsam: Der Mann für die Mulis trifft ein, Ngima Gurung sein Name. Das Gepäck wird nach seinen Angaben neu gepackt (jedes Muli muss an jeder Seite gleich viel Gewicht tragen und nicht zu viel, sonst streikt es) und Jangbu läuft hin und her und übt sein Amt als Oberchef aus. Schließlich kommt auch der Herr der zwei Pferde: Tashi Tharke, ein junger Mann aus Chharka (ich schätze ihn auf etwa 40; später erfahre ich, er ist 22!). Tashi ist uns allen auf Anhieb sympathisch, er strahlt diese bestimmte Art von Autorität aus, wie man sie bei Menschen antrifft, die ihr Metier absolut beherrschen und das mit jeder Geste ausdrücken. Er sagt selten etwas, lächelt aber gerne und zeigt dabei seinen prächtigen Goldzahn 2 oben rechts.

Anja und ich bekommen unsere Pferde zugewiesen und ich verlängere meine Steigbügelriemen (ist bei Anja nicht nötig). Dolma habe Angst vor Pferden, hatte Jangbu gemeint und sich aus Solidarität zu seiner Frau auch für Laufen entschieden. Ningsang geht als Küchenhelfer sowieso zu Fuß und Tashi führt Anjas Pferd am Zügel; so macht sich unsere Karawane schließlich auf den Weg. Unser Tagesziel ist von Sangda aus mit dem bloßen Auge zu erkennen: weit voraus und schon ziemlich hoch kennzeichnet ein winziger blauer Fleck das Dach einer Wellblechhütte – das Basecamp des ersten Tuje Passes, 5.190m hoch…

 

Die Mulis mit ihrem Herrn und Gebieter gehen schon früher los als wir, zusammen mit Ningsang (samt Tragekorb), Jangbu hat noch die Übernachtung und Küchennutzung zu bezahlen und, wie er das immer macht, zum Schluss noch überall nachzusehen, ob wir nicht irgendwas liegengelassen haben – ich meinen Hut zum Beispiel.

Dann reiten wir endlich los. Die Reihenfolge innerhalb unserer Karawane ergibt sich wie von selbst: Mein Schimmel Songduk ist es gewohnt, immer vorne zu gehen; mit der Position habe ich eh kein Problem und Tashi Tharke hat Anjas Pferd am Seil – so eine Art geführtes Ponyreiten. Tashis Fürsorge sollten wir noch schätzen lernen…Dahinter kommen Jangbu und Dolma zu fuß.

Es geht in Kehren stetig bergan, die Piste wird rauer und schmaler, führt durch einen Fluss und endet nach etwa 10 Kilometer an einem kleinen Platz. Dies ist die Stelle, wo die Traktoren aus Sangda ihre Last abladen und mit Planen gegen den Regen sichern.

Tatsächlich sehen wir mehrere Stapel abgedeckter Zementsäcke, Rollen mit Bewährungsstahl, PVC-Rohre und sogar ein Kinderrad, notdürftig verpackt. „Alles Sachen für Chharka“, erklärt Tashi Tharke, „Die Leute kommen mit ihren Mulis hier runter und holen die Sachen ab.“ Das klingt so, als ob man da mal eben zum GLS-Paketshop um die Ecke geht…

Unsere Mulis hatten ja nichts abzuladen und sind gleich weitergezogen. Wir machen eine kurze Pause, strecken die Beine nach den ersten zwei Stunden im Sattel und blicken sorgenvoll gen Himmel: Der hält sich bedeckt und am Horizont sieht es nach Regen aus…

Ab hier können wir nicht mehr reiten, zunächst geht es steil zum Fluss hinunter und nach der Hängebrücke sofort ebenso steil den Berg hoch, bis zum Camp nur noch hoch. Tashi geht mit den Pferden voraus und wir versuchen, ihm zu folgen – aussichtslos! An den Füßen beste Bergschuhe mit Knöchelschutz, Goretex-Membran und Vibram-Sohle, unterstützt durch ultraleichte Hightech Wanderstöcke (mit Dämpfung versteht sich), und gewandet in atmungsaktive Funktionskleidung verlieren wir Tashi und seine Rösser alsbald aus den Augen. Mr. Tharke trägt übrigens ausgelatschte Turnschuhe aus Segeltuch, eine Jeans und Steppjacke…

Runter bis zur Brücke war einfach. An der anderen Flussseite merken wir die 4000m Höhe sofort beim ersten Schritt: Es fühlt sich an, als ob der Körper plötzlich sein Gewicht verdoppelt hätte, mit jedem Schritt muss er gegen die Schwerkraft hochgestemmt werden, nach zehn, höchstens zwanzig Metern geht`s einfach nicht mehr weiter, die Luft bleibt mir weg. Stehen bleiben, das Herz schlägt heftig und schnell und mir wird warm, zu warm. Warten, bis sich der Puls von 150 wieder auf 90 beruhigt hat, dann weiter: „“Step by step!“ meint Jangbu und es soll aufmunternd klingen… Er hat gut reden, er ist 15 Jahre jünger und macht als Guide dergleichen mehrfach im Jahr. Und Sherpas haben eh einen genetischen Vorteil, weil sie besser Sauerstoff im Blut binden können als unsereins. Selbst Dolma, zwar auch Sherpa von Geburt, keucht sich den Berg hoch – sie ist dergleichen überhaupt nicht gewohnt, lässt sich aber – noch – nichts anmerken.

Wir erreichen das Basecamp kurz vor der Dämmerung. Die Mulis sind längst abgeladen, Tashi Tharke hat seine Pferde mit Kraftfutter versorgt und Küchenhelfer Ningsang ist dabei, die Gasflasche an den Brenner zu koppeln. Sobald Jangbu da ist, übernimmt er das Kommando und errichtet mit Ningsang das Küchenzelt, packt die Kochutensilien aus und beginnt mit Dolma`s Hilfe, das Abendessen zu kochen. Anja und ich sitzen erst mal auf Felsbrocken rum und sind mit Atmen voll ausgelastet. Irgendwann raffen wir uns auf und bauen unsere Zelte auf den wenigen halbwegs ebenen Stellen zusammen. Matten aufblasen, Schlafsäcke ausrollen – Jangbu serviert uns als Aperitif warmen Orangensaft (aus Pulver, aber immerhin!). Und dann der erlösende Ruf: „Dinner is ready!“ Wir essen im Küchenzelt, es hat angefangen zu regnen – na prima!

Auf das Toilettenzelt, sonst Standard bei allen Treks, wurde heute verzichtet mangels Platz. Wir schlagen uns in die Büsche und fallen müde auf die Matten, die Glocken der Mulis und Pferde bimmeln die ganze Nacht im Hintergrund. Der erste Tag hat uns geschafft, der Pass liegt unmittelbar vor uns…

Am nächsten Tag ist es neblig. Von einem früheren Trip weiß ich, dass man bei klarer Sicht von hier die Annapurna Kette sehen kann – jetzt reicht der Blick mal gerade 20 Meter weit! Für Anja tut es mir leid, sie ist das erste Mal in Nepal und hatte sich sehr auf das Himalaya-Panorama gefreut… aber das kommt bestimmt noch! Little did we know…

Nach dem Frühstück brechen Ningsang und Dolma schon mal auf und folgen dem Geläut der Muliglocken. Verlaufen kann man sich trotz des Nebels nicht, mehrere ausgetretene Trampelpfade führen den Berg hinauf. Solange es hoch geht, stimmt die Richtung! Und hoch geht es, im Winkel von meistens 30 bis 40 Grad, gefühlt oft 90! Der Blick geht immer nur auf einen Bereich unmittelbar vor den eigenen Füßen; zum einen ist bei der nicht vorhandenen Sicht sowieso nichts zu sehen, zum andern ist der Untergrund extrem rutschig. Der Boden besteht aus feinem Schiefer-Split, der durch den Regen der letzten Woche aufgeweicht ist und einen schmierigen Brei bildet. Dieser Schieferschlamm klebt an den Schuhen und lässt das Gehen zu einem Stapfen werden. Auch hier wieder dasselbe Muster: zehn Schritte bergan und die Luft ist weg, das Herz leistet Schwerarbeit. Ein Gutes hat der Nebel: wir können nicht sehen, wie weit es noch bis zum Pass ist!

  

Mit Freude am Wandern hat das nichts zu tun, es ist eine einzige Quälerei und wir wollen nur oben ankommen! Tashi Tharke geht mit seinen Pferden immer dicht hinter oder vor uns, manchmal im Gespräch mit Jangbu, meistens schweigend. Von irgendeiner Anstrengung ist ihm nichts anzumerken.  Nach etwa zwei Stunden lichtet sich der Nebel und wir erreichen eine nur mäßig schräge Wiese – und treffen auf eine Gruppe Männer, die hier Pause machen! Es sind Leute aus Chharka, mit ihren Mulis auf dem Weg zum Lagerplatz, um die Sachen abzuholen, die wir gestern dort gesehen hatten. Die Männer sind erst tags zuvor in Chharka gestartet, werden jetzt runter zum Lagerplatz gehen, alles aufladen und dann sofort umkehren und bis zum Basecamp hochsteigen!

Jetzt sitzen sie hier auf dem Boden und unterhalten sich entspannt, unser Muli-Mann, Dolma und Ningsang mitten unter ihnen. Ihre Mulis nutzen die Pause und fressen geräuschvoll im Hintergrund. Wir lassen uns einfach fallen und strecken die Glieder; ein Chharka Mann bietet mir seine Cola an – woher hat er die bloß?

Tashi Tharke meint, ab hier könnten wir erst mal ein Stück reiten – halleluja! Ich reite immer gerne, aber mit einer solchen Lust bin ich noch nie aufs Pferd gestiegen! Es ist einfach herrlich: von unten wärmt das Pferd den Hintern und ich werde mühelos den Berg hochgeschaukelt! Mühelos für mich, jetzt quälen sich die Pferde für mich! Auch sie halten immer wieder an und ich spüre, wie sie unter mir nach Luft pumpen – und fühle mich irgendwie schuldig… Schon nach wenigen Kehren lässt Tashi über Jangbu bestellen, wir sollten wieder absteigen, es käme ein besonders steiler Abschnitt. Besonders steil!  Ich halte inzwischen schon nach drei bis fünf Schritten an und keuche um Luft, Anja geht es genauso – wenn das Ganze doch bloß zu Ende wäre!

Der Nebel ist wieder dichter geworden, wir schleppen uns Schritt für Schritt weiter hoch – da taucht plötzlich vor uns ein Steinhaufen mit Gebetsfahnen auf! Ich weiß sofort, was das ist, kann es aber trotzdem nicht glauben: Wir sind OBEN! Der Pass ist erreicht, 5100 Meter! Om Mani Padme Hum!

Wir sind so erschöpft, dass wir nicht einmal ein Gipfelfoto machen, zumal uns Tashi Tharke bedeutet, wir können ab hier den Pass abwärts wieder reiten!

Nach wie vor ist das Wetter schlecht und von dem grandiosen Gebirgspanorama der Siebentausender ringsum nichts zu sehen, aber in unserer Verfassung tritt das jetzt ziemlich in den Hintergrund. Wir sind heilfroh, uns nicht mehr selbst tragen zu müssen und auch für die Pferde ist der Abstieg wesentlich leichter; Pausen müssen sie nicht mehr machen. Anja und ich ziehen den Hut vor Dolma – völlig untrainiert ist sie die gesamte Strecke gelaufen und sagt auf Nachfrage, es gehe ihr gut! Was anderes würde man auch von Sherpas nicht hören, selbst dann nicht, trügen sie den Kopf unter dem Arm…

Es geht jetzt eine kurze Strecke halbwegs ohne Steigungen am Fluss entlang, unser vorläufiges Ziel zur Mittagspause ist ein Steinhaus; das Dach aus blauem Wellblech ist schon von weitem zu sehen. Innen müssen dann erst Steine weggeräumt werden, um einigermaßen Platz für uns alle zu machen: Vom Berghang gegenüber hatte sich ein Felsbrocken gelöst und war wie ein Geschoss quer durch beide Seitenwände geschlagen – zum Glück war gerade niemand da, auch hier übernachten oft Reisende…

Ich bekomme vor Erschöpfung kaum einen Bissen runter; Jangbu kennt das schon und es macht ihm jedes Mal Sorgen. „You must eat!“ Mag sein, aber den größten Teil des Lunchpakets gebe ich an Tashi Tharke weiter, der damit kein Problem hat. Was mir auch den Appetit nimmt, ist die Aussicht auf den zweiten Tuje Pass, die man von hier „genießt“: Jenseits des Flusses zieht sich der Trail den Berg hoch; nicht so brutal steil, wie heute Morgen, aber dafür endlos lang!  Auf den zweiten Blick sehen wir dann auch eine Mulikarawane, die da gerade ameisengleich langsam, aber stetig hochtackert – step by step!

Eine Flussdurchquerung zu Pferde ist immer spannend. Man sitzt auf dem Pferd und gibt die Verantwortung an das Tier unter einem ab, das Wasser reicht bis an den Pferdebauch, der Untergrund ist bei der Strömung nicht zu sehen. Die Pferde fühlen bei jedem Schritt, wo sie einen sicheren Tritt finden und setzen ihre Hufe vorsichtig und mit Bedacht. Lange Beine zu haben, ist für den Reiter hier mal kein Vorteil – ich mache einige Verrenkungen, um nicht für den Rest des Tages nasse und kalte Füße zu haben. Tashi Tharke hat solche Bedenken nicht – er führt Anjas Pony am Strick durch das Wasser, als ob er eine Kneippkur macht! Dann kehrt er samt Pferd noch mal um und holt Dolma auf dem Pferd trocken durch den Fluss! A Gentleman in his own way!

Jangbu und Ningsang krempeln sich ihre Hosen hoch und ziehen die Schuhe aus – also doch Kneippkur!

 

Der zweite Tuje Pass ist grenzwertig, was das Reiten betrifft: Tashi Tharke, der weiß, was er seinen Pferden zumuten kann, meint, wir sollten mal sitzen bleiben!  Tun wir gerne, zumal wir merken, dass die Pferde sich hier nicht so quälen müssen. An die Höhe sind sie gewöhnt, es war der steile Anstieg, der ihnen zu schaffen gemacht hatte. Irgendwann ist auch die letzte Kehre geschafft und wir stehen auf dem höchsten Punkt unseres Treks: Tuje II, 5510 Meter!

Bergab ist es wieder so steil, dass wir gehen müssen; auch hier besteht der Untergrund aus Schieferschlamm und selbst die trittsicheren Pferde rutschen bisweilen. Runter geht zwar auf die Knie und wir haben bald weiche Beine, aber wenigstens keine Luftnot, wie bei Aufstiegen.

Kurz nach dem wir vom Berg runter sind, erwartet uns hinter einer Hügelkette eine Überraschung: Eine Gruppe von großen Zelten steht in der Nähe des Flusses. „They have started a hotel here!“

erklärt uns Jangbu. Diese „Hotels“ kenne ich von früheren Treks: Eine Familie erhält nach festgelegten Regeln für eine oder zwei Saisons die Genehmigung, eine Art Jausenstation zu errichten. Durchreisende können hier zu essen bekommen, es gibt Bier, Buttertee, Cola (aha, daher hatte der Mulimann die !) und übernachten kann man hier auch. Wir liegen gut in der Zeit und machen eine kurze Pause mit tibetischem Buttertee. Der ist so gehaltvoll und mit der Würzung durch Salz fast eine kleine Mahlzeit, schmeckt auch gar nicht so übel. Nach drei Tassen davon gehts weiter.

Wir sitzen wieder auf und lassen Jangbu, Dolma und Ningsang hinter uns. Die Pferde gehen deutlich schneller als ein Fußgänger, lediglich Tashi hat kein Problem damit, Schritt zu halten!

Unser Tagesziel ist eine Yakwiese am Fluss, hier haben Hirten aus Steinen eine Art Pferch gebaut, in dem sie zur Nacht ihre Ziegen einsperren, sodass sie vor Schneeleoparden und Wölfen sicher sind. Jetzt ins niemand da und wir warten auf die Fußgänger. Als es anfängt zu regnen, spannt Tashi eine Plane auf, unter der Anja und ich dann frierend hocken und auf bessere Zeiten warten.

Die kommen dann schließlich in Gestalt von Jangbu, Dolma und Ningsang und jetzt wird das komplette Programm abgespielt: Küchenzelt und Toilettenzelt werden aufgebaut, der Gaskocher angeworfen und während wir den Orangensaft-Aperitif trinken, bauen unsere Freunde die Zelte auf. Normalerweise mache ich das selbst, aber in meinem aktuellen Zustand kann ich die Prise „imperial style“ so stehen lassen.

Wir warten auf das Essen und beobachten dabei zwei Motorradfahrer, die vergeblich versuchen, damit den Fluss zu überqueren. Es sind Einheimische, die irgendwas in Mustang gekauft haben und jetzt auf dem Weg ins obere Dolpo sind. Sie laden ihre verpackten Waren ab und tragen sie mühsam auf die andere Flussseite. Das Wasser geht ihnen bis zu den Hüften und sie haben Mühe, sich gegen die Strömung auf den Beinen zu halten. Dann kommen sie wieder zurück und zu unserem Camp. Sie seien auf dem Weg nach Shimen, einem Dorf nördlich von Chharka und fragen, ob wir Ihnen unsere HighTech – Wanderstöcke ausleihen würden; damit könnten Sie den Fluss sicherer durchqueren. Ich gebe ihnen meine Stöcke und sage ihnen, dass sie die in der Schule von Chharka abgeben sollen. Mich interessiert, wie sie ihre Mopeds durch den Fluss bringen wollen – der Wasserstand werde wohl in den nächsten Tagen sinken, dann kämen sie zurück und würden sie holen, ist die Antwort. Irgendwie ist das nicht zu fassen, was diese Leute leisten, um Sachen zu transportieren! Dass sie jetzt nass sind bis über die Taille und das auch die ganze Nacht bleiben werden, spielt überhaupt keine Rolle! Unsereins wird im warmen Küchenzelt bekocht und liegt dann im Zelt in seinem Daunenschlafsack auf einer state-of-the-art Isomatte!

Der Fluss ist über Nacht wegen des Regens weiter gestiegen. Tashi Tharke macht den Vorschlag, dass unsere Fußgänger Jangbu, Dolma und Ningsang sich eine Durchquerung ersparen und diesseits einem alten Fußweg in Richtung Chharka folgen. Unsere Mulis und wir auf den Pferden durchqueren den Fluss ohne große Probleme und steigen dann wieder bergan. Von einer Anhöhe können wir unsere Freunde tief unter uns am anderen Flussufer sehen, wie sie auf dem Trail unterwegs sind. Ihre Strecke ist kürzer, aber wegen des schmalen Weges dicht am Wasser für Mulis und Pferde zu gefährlich. Mal sehen, wer eher am Treffpunkt ist!

Wir sind eher da. Um allerdings zu der verabredeten Stelle zu kommen, muss noch einmal der Yaklung Khola überquert werden. Der ist inzwischen derart angeschwollen, dass selbst Tashi Tharke spontan nicht weiß, an welcher Stelle wir es wagen sollen. Letztlich entscheidet er sich für eine, geht aber kein Risiko ein: Bevor wir uns in die Fluten wagen, schickt Tashi die Mulis vor! Genial! Den Tieren reicht das Wasser bis über die Bäuche und sie haben sichtbar Mühe, sich gegen die Strömung zu behaupten. Tashi beruhigt uns:“ Mule knows, no problem!“ Und tatsächlich – die zähen kleinen Tiere stemmen sich schräg gegen die Strömung und kämpfen sich langsam Schritt für Schritt ans andere Ufer! Dass dabei unsere „wasserdichten“ Packsäcke tief eintauchen, verspricht nichts Gutes!

Anja und ich sitzen angespannt auf unseren Pferden, reinfallen will hier niemand! Mir läuft das Wasser in die Schuhe, aber ansonsten geht alles gut – Tashi hält sich am Pferd fest und nimmt ungerührt in Kauf, dass er nahezu komplett nass wird!

Nach einer Stunde tauchen Jangbu, Dolma und Ningsang auf, sichtlich erschöpft. Was sie berichten, macht klar warum: Der Weg am Flussufer war nach kurzer Zeit vom hohen Wasserstand überflutet und sie mussten bergwärts ausweichen. Streckenweise sei es nur auf allen Vieren vorangegangen und sie hätten oft Angst gehabt, abzurutschen und in den Fluss zu stürzen! Besonders für Dolma sei es sehr schlimm gewesen, sagt mir Jangbu, „She cried…“

Zum Begriff „Abenteuer“ gehört nach meinem Verständnis eine Portion Gefahr – dieser Trek scheint die Bedingungen zu erfüllen!

Ab hier können Anja und ich die restliche Strecke bis Chharka reiten. Es regnet zum Glück nicht mehr, zeitweise kommt sogar die Sonne zum Vorschein und die Stimmung hebt sich bei allen. Auch die Pferde und Mulis merken, dass es in Richtung Heimat geht und laufen schneller als gewöhnlich. Wir befinden uns jetzt mehr oder weniger auf der Höhe von Chharka (4300m) und es sind keine nennenswerten Steigungen mehr zu erwarten, aber wir bleiben dennoch schön auf unseren Pferden sitzen: jede kleine Bodenwelle bringt uns zum Schnaufen! „See! Chharka village!“ meint plötzlich Jangbu und deutet in Richtung Horizont. Tatsächlich: Weit voraus sind die blauen Dächer der Schule zu erkennen! Wir werden fast euphorisch, Chharka bedeutet trockene Klamotten, warmes Essen, ein festes Dach über dem Kopf und AUSRUHEN!

Die letzten Kilometer ziehen sich endlos hin, aber dann passieren wir die ersten Häuser von Chharka Bhot und aus allen Ecken kommt uns ein „Tashideleks!“ entgegen. (So etwas wie „Moin“ auf Tibetisch.) Wir reiten durch die mittelalterlich anmutende Altstadt und hoch zur Schule. Samdup nimmt uns die Pferde ab und zu Fuß gehen wir durch das Tor. „Tashideleks!“ ertönt es jetzt aus wohl dreißig Kinderkehlen! Die jüngsten der Schule stehen zum Spalier aufgereiht – wie lange wohl schon? – viele von ihnen in bester Sonntagstracht und alle haben Katas in den Händen. Mit diesen bunten, ursprünglich immer weißen Schals (Polyester und mit Segenssprüchen bedruckt) werden in Nepal traditionell Gäste begrüßt, geehrt und verabschiedet. Ich muss mich tief bücken, damit die Kleinen mir die Schals umhängen können, zumal ich auch noch dieses Trumm von Pelzmütze trage. Nach dem vierten Kata ruft mir Samdup zu „One is enough, give one back to the last child!“ Anja, auch reich behängt ist sichtlich gerührt von dieser Begrüßung, ich kann das sehr gut nachfühlen!

Dann geht es in die Schulküche, ein alter Bau aus Natursteinen und Lehmputz, viel zu klein für Schüler und Lehrer, aber weil hier von morgens bis abends ein Ofen bollert und der Koch immer irgendwas am Köcheln hat, ist hier das soziale Zentrum der Schule. Wir trinken Tee mit Samdup, einigen Lehrern und Schwester Kunsang und versichern uns gegenseitig, wie toll wir es finden, hier zu sein. Samdup kommt gleich zur Sache und bespricht mit mir das Programm der nächsten Tage; wir haben eine Woche für unseren Aufenthalt im Dorf eingeplant. Morgen möchte ich mir einen ersten Eindruck machen vom Stand der verschiedenen Projekte, die Lehrer und alte Bekannte begrüßen und allgemein erstmal richtig ankommen. Mit Schwester Kunsang hatte ich schon lange vorab besprochen, dass ich sie gerne einmal auf ihren Außendienst zu entfernteren kleinen Dörfern begleiten würde. Sie meint, das passe ganz gut, am übernächsten Tag habe sie vor, einige Nomadencamps jenseits des Mola Passes zu besuchen, da könnten Anja und ich gerne mitkommen. Nomadencamp? Das klingt noch besser als kleine Dörfer! Eine super Idee!

Nach unserer Rückkehr soll dann der offizielle Empfang durch das Dorf und Vertreter der Verwaltung stattfinden (viele Grußworte und Reden, garniert mit Tänzen der Schüler und diversen Darbietungen). Anschließend wolle das Dorf gerne mit uns feiern. Das kenne ich – tanzen und reichlich Chang! Vor unserer Abreise will ich noch eine genaue Bestandsaufnahme des Toilettenprojekts, des Waschhauses und der neuen Gesundheitsstation machen. Samdup notiert alles.

Die Lehrerin Tsewangmo, des Englischen mächtig, hatte wieder ein Homestay angeboten und begleitet Anja und mich nach dem Abendessen zu ihrem Haus (das einzige in Chharka, das schon seit langem eine Toilette hat). Wir müssen dazu durch das ganze Dorf, es ist stockdunkel (kein Strom in Chharka), der Eindruck von Mittelalter in der Altstadt verstärkt sich noch. Tsewangmo ist für die Zeit unseres Besuchs mit ihrer Familie in die (beheizte) Küche gezogen, Anja und ich bewohnen die gute Stube und bekommen einen eigenen Schlüssel dafür. Wir schlafen ein, kaum dass wir uns auf den gemauerten Bänken mit Schlafsäcken und Matten eingerichtet haben – kein Zelt aufbauen! Und am nächsten Morgen auch kein nasses abbauen! Om mani padme hum!

Wir hatten uns zu acht Uhr in der Schulküche zum Frühstück verabredet, es sind ungefähr 700 Meter bis dahin und dafür brauchen wir eine halbe Stunde. Zunächst geht es leicht bergab, dann über eine Brücke (Chharka liegt am Zusammenfluss zweier Flüsse) – anschließend einen Hügel hoch. Diese kleine Steigung bringt uns schon außer Atem und es ist wohl nur der zurückhaltenden Höflichkeit der Dorfbewohner geschuldet, dass sie uns freundlich grüßen („Tashi deleks!“) und sich nicht amüsieren über die zwei schlappen Figuren. Jedenfalls zeigen sie uns das nicht…

Unterwegs passieren wir zwei der neuen Wasserstellen, aus denen jetzt per Kugelhahn sauberes Trinkwasser gezapft werden kann. Dieses Wasser wird mittels im Boden verlegter PVC-Rohre von einer zwei Kilometer entfernten Bergquelle zu einem zentralen Auffangtank geleitet, von wo es durch Schwerkraft zu mehreren Auslässen im Dorf und auf dem Schulhof fließt. Das gesamte System wurde mit einer großzügigen Spende eines Schweizer Unternehmers ermöglicht und ersetzt die frühere Wasserversorgung per Kanister aus dem Fluss – der belastetes Wasser führt.

Bei der Schulküche angekommen, sind wir froh, endlich wieder sitzen zu können! Jangbu und Ningsang hatten noch gestern auf dem Hof vor der Küche ihr Küchenzelt aufgeschlagen und darin die Trekkingküche eingerichtet. Weil wir mit unserem Besuch nicht dem Dorf bzw. der Schule zur Last fallen wollen, verpflegt Jangbu seine Leute und uns mit dem mitgebrachten Vorrat und kocht auch auf eigenem Gas. Dolma, zum ersten Mal hier, übernimmt wie selbstverständlich Arbeiten sowohl im Küchenzelt als auch in der Schulküche. Ausruhen ist wohl nicht ihr Ding!

Während wir unser Käseomelett essen, treffen nach und nach Lehrer und Schwester Kunsang ein, machen sich noch einen Tee, wir begrüßen die beiden neuen Lehrer, die die Bambusschule finanziert und schauen dem Koch zu, wie er den tibetischen Gussofen anfeuert: zuerst mit Hobelspänen und dann mit trockenem Yakdung. Und dann erscheint der Verursacher der Hobelspäne: Sange Sherpa! Sange ist der jüngere Bruder von Jangbu und jetzt schon im zweiten Jahr in Chharka Bhot. Er ist nämlich Tischler, sowohl talentiert wie erfahren. Er wohnt im elterlichen Anwesen im Schatten des Mount Everest und arbeitet dort nach Auftragslage auf verschiedene Baustellen in der Region. Die Arbeit wird schlecht bezahlt und sein Nebenjob als Trekking Guide bringt ihm im Sommer überhaupt nichts ein. Jangbu hatte Samdup von ihm erzählt und gefragt, ob es Arbeit gebe für seinen Bruder. Gab es und Sange kam, sägte und hobelte. Und zwar so gut und effektiv, dass er nach seinem regulären Job für die Schulprojekte zunehmend Nachfragen von Dorfbewohnern erhielt: „Was nimmst du für einen Schrank?“ „Bei uns braucht die Zimmertür eine neue Zarge, was kostet das?“ Sange spricht als Sherpa Tibetisch und fügt sich auch sonst in das kulturelle Gefüge des Dorfes nahtlos ein (er trinkt gerne Chang und arbeitet dessen ungeachtet trotzdem von morgens bis abends). Sange beherrscht die von uns angeschafften Elektrowerkzeuge perfekt und hat in diesem Jahr auch noch einen weiteren Tischler aus dem Solu Khumbu als Assistenten mitgebracht. Samdup als „Anstellungsträger“ wird nicht müde, sein Loblied auf das Holzwurmteam zu singen: „Without Sange we would not have achieved half of the results!“ Ich habe Sange das letzte Mal vor vielen Jahren gesehen, als ich mit Jangbu seine Mutter besuchte… jetzt ist er verheiratet und hat zwei Kinder.

Nach dem Frühstück machen Anja und ich einen geführten Rundgang mit Samdup. Seit meinem letzten Besuch vor zwei Jahren ist viel Neues entstanden auf dem Schulgelände. Das Waschhaus ist fertig und bietet jetzt die Möglichkeit, Hygiene zu unterrichten. „Waschen und Duschen – aber richtig!“ könnte der neue Kurs heißen, in dem Lehrer und Lehrerinnen ihren Klassen den Umgang mit Wasser, Seife und Handtuch vermitteln. Das ist Neuland für die Dolpo Pa (so werden die Bewohner dieser Region genannt). Wasser musste ja bis vor kurzem mühsam vom Fluss hoch- geschleppt werden und wurde nur zum Kochen benutzt. Erst mit Eintritt in die Schule gab es seitens der Lehrer Anweisungen, sich die Hände zu waschen und Kunsang hat Unterricht im richtigen Zähneputzen gegeben. Mit dem Waschhaus verfolgen wir zwei Ziele: Den Kindern und darüber letztlich auch den Eltern die Bedeutung von Körperhygiene vermitteln und den Lehrern sowie der Krankenschwester das Leben in Chharka etwas zu erleichtern. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass qualifizierte Leute unter derart harten Bedingungen arbeiten!

Neben der Bambusschule und Dolpo Tomorrow engagiert sich noch eine Organisation für die Schule: „Nepalhilfe Beilngries e.V.“ ist eine an Mitgliedern kleine, aber sehr finanzstarke Organisation; sie hat vier weitere Klassenräume bezahlt, die in der bewährten Passiv-Solar Bauweise konstruiert wurden, genauso wie das Waschhaus. Das Prinzip ist so einfach wie wirkungsvoll: Den nach Süden zugewandten Räumen wird eine Art Veranda vorgebaut, die mit transparentem Polycarbonat geschlossen wird. Es entsteht so ein Gewächshaus-Effekt, die Temperatur hinter der Veranda steigt infolge der enormen Sonneneinstrahlung stark an und erwärmt nicht nur den unmittelbar dahinter liegenden Bereich, sondern das gesamte Gebäude.

Samdup will uns noch die neuen Toiletten zeigen, einige seien schon fertig, aber dazu müssten wir kreuz und quer durch das ganze Dorf laufen und vor allem hoch und runter – und ich bin schon wieder platt!

Das Mittagessen nehmen wir zusammen mit einigen Lehrern sowie Sange und seinem Assistenten ein. Für uns kocht Jangbu immer besondere Mahlzeiten; in seiner Ausbildung zum Trekking Guide wurde ihm wohl vermittelt, dass Europäer im täglichen Dal-Baht Tarkari nicht die kulinarische Erfüllung finden. Also gibt es mal überbackenen Blumenkohl, Pommes frites (in der Pfanne gebraten), Buchweizen-Pfannekuchen, Spaghetti, Teigtaschen mit Gemüsefüllung – und immer VIEL! Wir kennen uns schon über zwanzig Jahre und er war insgesamt in dieser Zeit zusammengerechnet fünf Jahre in Deutschland – bei jedem Trek dauert es Tage, bis ich ihm vermitteln kann, dass ich nicht soo viel runterbekomme! Die Nepalis dagegen verdrücken Berge von Essen, vor allem Reis! Gut, Sange arbeitet den ganzen Tag körperlich, aber als ich sehe, dass er sich zum zweiten Mal seinen Teller vollpackt mit Reis, Linsen und Gemüse und auch das alles mit Genuss isst, bin ich schon vom Zusehen satt…

Am nächsten Tag fühlt sich Anja krank und bleibt im Bett, fürsorglich versorgt von Tsewangmo mit Tee und Wärmflasche. Als ich auf dem Schulhof ankomme, hat Schwester Kunsang schon ihren Sack mit Medikamenten und ihr Zelt samt Schlafsack und Matte gepackt. Wir brechen sofort nach dem Frühstück auf; drei Mopedfahrer hat Samdup für die Exkursion zu den Nomadencamps organisiert. Auf ein Moped kommt das gesamte Gepäck von Kunsang und mir sowie die Medikamententasche; Kunsang und ich steigen zu den zwei anderen Fahrern hinten aufs Krad. Die Maschinen sind 125er aus China, von der Verdichtung her extra konzipiert für diese Höhen, ansonsten von einer Verarbeitungsqualität, dass nach kurzer Zeit alles abfällt, was nicht unbedingt nötig ist… Von Chharka aus lassen sich damit die benachbarten Orte erreichen, sofern keine unwegsamen Pässe überquert werden müssen. Die Mopeds sind also durchaus praktisch – darüber hinaus natürlich auch Statussymbole. Mein Fahrer Temba ist mir schon bekannt. Vor zwei Jahren hatte er mich ins Nachbardorf Tinje gefahren; er ist wie mit seiner Maschine verwachsen und kennt natürlich auf der Strecke jedes Schlagloch. „You ok?“ „Yes!“ Und los gehts! Die Ohrenklappen meiner Pelzmütze heruntergeklappt und unterm Kinn zusammengebunden, eine dicke Jacke übergezogen, die Sonnenbrille aufgesetzt und mit beiden Händen an der Sissybar (Griff hinten am Sitz) festgehalten, überlasse ich mich voller Hingabe den souveränen Fahrkünsten meines Piloten. Es geht nur bergan, bis wir den Mola Pass erreicht haben (5200m) und eine kurze Pause machen. Dieser Pass ist ohne weiteres mit Mopeds zu befahren; das Spektakuläre an ihm ist die Sicht auf das Dhaulagiri Massiv (8167m) – wäre es, wenn die Berge nicht komplett in den Wolken steckten! Wenigstens regnet es nicht… Ab hier geht es wieder bergab und wir verlassen bald den Karawanenweg, um schmalen Mulipfaden querfeldein zu folgen. Den Mopedjockeys verlangt das Gelände alles ab, Schlaglöcher sind zu umfahren, Steinbrocken gilt es auszuweichen und immer wieder geht es durch Bäche. „Soll ich absteigen?“ frage ich Pemba ein ums andere Mal; immer ist seine Antwort: „No problem, Sir!“ Das „Sir“ ist ihnen nicht abzugewöhnen, ein alter Mann mit grauem Haar ist hier eben eine Respektsperson!

Wie die Fahrer sich in dieser Gegend zurecht- und dann auch noch punktgenau ein Camp finden, ist mir ein Rätsel. Aber dann tauchen genau vor uns drei schwarze Zelte auf – und von einer Minute zur anderen bin ich in einer anderen Welt. Wir halten mitten zwischen den Zelten und ich steige mit steifen Beinen ab. Sofort kommen mehrere Kinder auf Kunsang zu gerannt und sind ganz aus dem Häuschen. Es ist unverkennbar, dass die Kinder sie lieben; vom ersten Moment an gehen sie ihr nicht von der Seite, reden auf sie ein, wollen ihr etwas zeigen und die kleinsten lassen sich gern von ihr auf den Arm nehmen. Die Erwachsenen sind etwas zurückhaltender, aber auch hier wird deutlich, dass sie sich über den Besuch freuen. Wir waren angekündigt; mit Funksprechgeräten ist Chharka erreichbar und auch die einzelnen Camps stehen untereinander in Verbindung.

Als erstes werden die Schwester und der Ehrengast in das größte Zelt am Platz gebeten, zum Buttertee, versteht sich! Ich habe diese Zelte bisher nur von außen gesehen, zu einem Besuch hatte es nie gereicht. Hergestellt werden sie aus Yakwolle, von den Frauen zu breiten Bahnen gewebt und vernäht.

Meistens haben die Zelte nur eine Stange im Inneren, um die Bewegungsmöglichkeiten nicht einzuschränken. Außen herum werden dann mehrere Holzpfähle aufgestellt, von denen aus Seile zu Punkten an den Zeltwänden führen und diese abspannen. Diese Außenpfosten müssen ihrerseits auch wieder zeltabgewandt gespannt werden – das Ganze ist eine sehr raumgreifende Konstruktion. Aber wenn es hier etwas im Überfluss gibt, dann ist das Platz!

Ich bin erstaunt, wie hell es im Inneren des schwarzen Zeltes ist! Schnell wird klar, wieso: Das Gewebe aus Yakwolle ist recht grob gewirkt und lässt viel Licht herein. Und bei Regen? frage ich Kunsang neben mir. „No problem!“ Die Zelte seien sehr wasserdicht; die Yakwolle ist recht rau und die Zeltbahnen haben außen Millionen kleiner Haare, die für eine Oberflächenspannung sorgen, die Regen abperlen lässt. Gleichzeitig ist das Material „atmungsaktiv“ – es herrscht ein gutes Klima im Zelt. Auf einer Fläche von etwa 10 Quadratmetern befindet sich alles, was eine mehrköpfige Familie während des Sommercamps braucht: Ein Altar mit mehreren Butterlämpchen, viele bunte Decken (Polyester, China), Säcke mit Mehl, Linsen, eine Zentrifuge für die Milch, Töpfe und Geschirr, Kleidung, Schuhe – und jede Menge diverser Kram, den ich nicht näher zuordnen kann. In der Mitte steht immer der Eisenofen, daneben ein Haufen Yakdung. Dies ist der Platz der Hausherrin, bzw. der Schwiegertochter. Von dort wird mir auch der Buttertee gereicht und anschließend eine Schale mit weißem Reis, in einer Mischung aus Yak- und Ziegenmilch gekocht. Reis ist sehr teuer hier und wird nur zu besonderen Anlässen gegessen – der heutige Anlass bin ich. Die Leute kennen mich von meinen früheren Besuchen, viele Nomaden haben Kinder in der Schule von Chharka und damit werde ich in Zusammenhang gebracht. Also den Reis besser nicht ablehnen… und ich stelle fest, dass er richtig gut schmeckt mit der Ziegenmilch! Als ich noch um einen Nachschlag bitte, strahlt die Hausfrau – ihm schmeckt`s!

Ok, jetzt sind wir hier richtig angekommen und bauen als nächstes unsere eigenen Zelte auf, das Wetter kann sich schnell ändern.

Dann folgt der Arbeitsteil – Kunsang eröffnet ihre Nomadenklinik. Eine Plane wird auf der Wiese ausgebreitet, der Sack mit den Medikamenten und medizinischem Material ausgepackt und geordnet. Schnell haben sich um Kunsang die Menschen dieses Camps versammelt; darunter sind Patienten, solche, die es werden wollen und Zuschauer. Hier, wo jeder Tag verläuft, wie der vorherige und der morgige genauso wird, wie heute, ist Kunsangs Besuch ein absolutes Highlight!

Sie sitzt im Schneidersitz am Boden und empfängt die erste Patientin. Immer wird der Blutdruck gemessen und die Sauerstoffkonzentration im Blut; beides sind in dieser Höhe wichtige Indikatoren für Störungen. Dann geht es um die aktuelle Beschwerdelage – was tut wie wo weh, seit wann, was ist passiert? Oft geht es um Kopfschmerzen, kleine Verletzungen, Erkältungen mit Husten, Bluthochdruck, manchmal werden Bauchbeschwerden geschildert, die dann ein Abtasten erfordern. Nach der Diagnose kommt die Therapie, hier meistens in Form von Tabletten oder Tropfen. Großen Wert legt Kunsang auf eine genaue Beschreibung der Einnahmeregeln; vor allem bei Antibiotika muss vermittelt werden, die Tabletten auch nach Abklingen der Symptome bis zum Ende der Packung/des Blisterstreifens einzunehmen!

Ich setze mich neben einen alten Mann und schaue mir das Treiben mit etwas Abstand an. Der Nomade neben mir könnte in jedem Western die Rolle „Alter Häuptling“ spielen: In das lederbraune, von einer scharfen Nase beherrschte Gesicht haben die Jahre – 60? 70? -, die Höhe und das Wetter tiefe Falten gegraben, sein langes, schwarz-graues Haar ist hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden und um den Hals trägt er den traditionellen Schmuck der Tibeter: rote Korallen und Türkise. Er sitzt offenbar mühelos kerzengerade im Schneidersitz (mir tun dabei die Knie weh) – das Einzige, was nicht zu dem Häuptling-Eindruck passt, ist die Spindel in seiner Hand. Das war mir schon aufgefallen: Auch für Männer ist es ganz selbstverständlich, so ganz nebenbei aus einem Knäuel Yakhaar mit einer Handspindel einen Faden zu spinnen. Der wird dann später von den Frauen auf einem primitiven Webstuhl weiterverarbeitet.  Als ich mich von ihm verabschiede, steht der Mann ungleich geschmeidiger vom Boden auf als ich…

Der Kreis um Kunsang wird immer größer, inzwischen sind auch Menschen aus einem benachbarten Camp eingetroffen. Von der Untersuchung über die Behandlung bis zur Verabreichung von Medikamenten und Verhaltensregeln findet alles unter großer Anteilnahme aller Umstehenden statt – Privatsphäre und sowas wie Datenschutz muss hier noch erfunden werden!

Irgendwann ist auch der letzte Patient versorgt und die Ansammlung löst sich langsam auf. Kunsang erklärt mir, dass es wichtig sei, jede Untersuchung mit einem konkreten Ergebnis zu beenden – Tabletten oder Tropfen müssen sein, besser noch sei eine Spritze. So ganz anders ist das in deutschen Hausarztpraxen wohl auch nicht…

Es naht ein weiteres Highlight des Tages, jedenfalls für mich: Hunderte von Ziegen kommen den Berghang herab, es sieht aus, als bestünde die Herde nicht aus einzelnen Tieren, sondern bilde ein sich bewegendes Ganzes!

Irgendwo dahinter mache ich dann auch den Hirten aus. Die Aufgabe, mit den Ziegen morgens loszuziehen und sie zu guten Weidegründen zu führen, wird nach einem festgelegten Rhythmus auf die Männer des Camps verteilt, irgendwann ist jeder dran. Der Hirte bricht sehr früh am Morgen auf, einen Klumpen Tsampa (Gerstenmehl mit Yak- und Ziegenmilch verrührt) in der Tasche und jede Menge Höhenmeter unter den Schuhen.

Als die Ziegenherde im Camp eintrifft, kommt die Stunde der Frauen und Mädchen: sie schnappen sich jeweils die Ziegen an den Hörnern, die zur eigenen Familie gehören und binden sie mit kurzen Schnüren an langen aufgespannten Leinen fest. Woran sie die Ziegen unterscheiden können – ich verstehe es nicht, Kunsang meint aber, dass sei für die Nomaden kein Problem. „They know each single animal, never make a mistake!“ Es sind vier Familien in diesem Lager und an vier Langleinen sind jetzt je zwei Reihen Ziegen so festgemacht, dass sie sich mit den Köpfen gegenüberstehen.

Die Frauen und Mädchen jeweils einer Familie bewaffnen sich mit Eimern und hocken sich hinter die Ziegen. Ein kurzer Klaps an das Euter und zack, zack, schon schießt die Milch in scharfem Strahl in die Eimer. Die Frauen machen das äußerst effektiv, man könnte glauben, sie arbeiteten im Akkord! So einfach, wie das aussieht, ist Melken gar nicht; ich habe das bei Kühen probiert und viel ist nicht dabei herausgekommen… Und Ziegen haben ungleich kleinere Zitzen!

Lange dauert es nicht, bis so eine Ziegen-Doppelreihe ausgemolken ist; die Frauen lösen die Leinen mit wenigen Handgriffen und die Ziegen, befreit von Milch und Fesseln, stehen etwas orientierungslos herum. Schließlich werden sie abseits der Zelte in einem Geviert aus Steinmauern zusammengetrieben, wo sie die Nacht verbringen. Jetzt im Sommer ist der Schutz vor Leoparden und Wölfen nicht so wichtig und die tibetischen Hütehunde walten ihres Amtes – aber sicher ist sicher! Die Hütehunde sehen übrigens so aus wie unser Leo…

In der Milch schwimmen einige Ziegenhaare und hier und da auch kleine schwarze Krümel; wird alles rausgefischt von flinken Frauenhänden, die dann die Milch durch Tücher in ein Sammelgefäß gießen. Im Zelt wird dann per Handzentrifuge die Milchemulsion getrennt.

Im Zelt einer einzelnen jungen Frau werden Kunsang und ich jetzt zum Abendessen eingeladen.

Die Frau ist vielleicht Anfang zwanzig und hat einen kleinen Jungen, etwa anderthalb Jahre alt. Ihr Mann ist für mehrere Tage mit Mulis unterwegs – Material für die Schulprojekte in Chharka holen.

Hier wird noch einmal die selbstbewusste und unabhängige Position der Frau bei den tibetischen Nomaden deutlich – keine Beduinenfrau, die nicht auf ewig ihren Ruf verspielen und noch Schlimmeres auslösen wollte, würde einen fremden Mann zu sich ins Zelt lassen, wenn der Gatte auf Reisen ist!

Wir setzen uns im Zelt an den Ofen, die Hausfrau befeuert ihn mit Yakdung und bald ist es so warm, dass wir unsere dicken Jacken ausziehen. Der Junge ist sofort auf Kunsangs Schoß gekrabbelt – beiden gefällt das sichtlich. Die Frau hatte Pilze gesammelt, die legt sie jetzt dicht an die Glut und als sie fertig sind, essen wir sie mit Tsampa, Salz und Butter – köstlich!

Die einzige Lichtquelle ist das glimmende Feuer, der Rauch zieht in tanzenden Schleiern durch das Zelt, in der Ferne bimmeln die Glocken der Ziegen und die Melange der Gerüche Tibets hüllt uns alle ein – ich könnte den Rest der Nacht hier sein.

Irgendwann tut der Rücken weh und auch Frau Nomade muss ja mal schlafen. Kunsang und ich gehen in unsere Zelte und kriechen in die Schlafsäcke. Müde bin ich nicht; die Eindrücke des Tages halten mich ebenso wach wie der starke Herzschlag – wir sind auf Montblanc-Niveau!

Eine meiner häufigsten Grundängste ist die Sorge, etwas zu verpassen. Ich werde früh wach, so gegen sechs und stehe sofort auf – und bin alleine auf der Wiese. Über allen Zelten ist Ruh; immerhin steigt schon mal dünner Rauch aus den Ofenrohren. Es ist kalt, besonders, wenn man einfach nur so rumsteht, ich gehe mal hinter den nächsten Hügel… Bei meiner Rückkehr sind die Yakzelte immer noch geschlossen, nur Schwester Kunsang sieht mich aus ihrer riesigen Brille erstaunt an. „What about the Yaks?, frage ich sie. Die würden nämlich immer morgens gemolken, hatte sie mir gesagt und das wollte ich auf keinen Fall verschlafen. Rücksichtsvolle Freundlichkeit ist eine der angenehmsten Eigenschaften der Dolpo Frauen; niemals würde Kunsang zeigen, dass sie sich über den Earlybird amüsiert! Stattdessen kocht sie einen Tee für uns auf ihrem kleinen Gaskocher!

Die Yakzelte zeigen die ersten Lebenszeichen in Gestalt von Kindern, die da rausgewieselt kommen und sofort erhält Kunsang Besuch in ihrem kleinen Zelt!

Nach und nach tauchen auch die Erwachsenen auf, hauptsächlich sind Frauen im Lager, die Männer sind bis auf einige würdige alte Patriarchen unterwegs, mit ihren Mulis Transporte durchzuführen. Unsere Projekte in Chharka Bhot verschaffen mehreren Familien ein Einkommen – ein guter Nebeneffekt.

„Tibetischer Grunzochse mit drei Buchstaben – so tauchen Yaks regelmäßig in Kreuzworträtseln auf. Selten wurde ein Tier mit einem Wort passender beschrieben. Die Yaks, die jetzt allmählich auf der Wiese zwischen den Zelten zusammengetrieben werden, geben diese typischen gutturalen Grunzlaute von sich, alle tun das und in kurzen Abständen – ein Konzert der besonderen Art. Die Tiere sind ausnahmslos Kühe (liegt nahe, von wegen Melken) und haben jeweils ein Kalb dabei. Das Melken ist wesentlich weniger spektakulär als der gestrige Ziegenauftrieb, kein Tier muss angebunden werden. Yaks bewegen sich würdevoll und sind nicht „zickig“; wie Kühe lassen sie sich ihre Milch abzapfen. Yakmilch ist fetthaltig und nahrhaft, vermischt mit Ziegenmilch machen die Nomaden daraus Käse. Bei meiner Ankunft gestern Mittag lagen vor jedem Zelt weiße Stücke davon zum Trocknen in der Sonne. Es gibt den Käse in zwei Formen: einfache Klumpen, etwa drei bis fünf Zentimeter im Durchmesser und eine Art, die mich an die Weihnachtsplätzchen erinnert, die meine Mutter aus Teig machte, der dann durch eine Presse gedrückt wurde – flach mit Riffeln auf einer Seite. Hier brauchen die Frauen keine Presse: Frischer Käsebrei wird in die Hand genommen und irgendwie zusammengedrückt und ruck zuck quellen die geformten „Käseplätzchen“ zwischen den Fingern hervor. Wenn trocken, ist der Käse steinhart, man kann sich locker eine ganze Stunde damit beschäftigen, so ein Stück im Mund zu verarbeiten. Extrem nahrhaft, geht kein Nomade ohne einen gehörigen Vorrat davon „außer Zelt“. Natürlich bekomme ich von jeder Familie Stücke davon zugesteckt und ich bin erstaunt, wie würzig er schmeckt! Vielleicht liegt das auch daran, das hier allgemein auf jegliches Händewaschen verzichtet wird, Wasser muss schließlich vom nächsten Bach herbeigeschleppt werden. Oder es wurden doch nicht alle von diesen kleinen schwarzen Kügelchen aus der Milch entfernt…

Das Melken ist beendet, die Yaks werden wieder sich selbst überlassen. Diese Tiere sind mit ihren spitzen ausladenden Hörnern und scharfen Hufen sehr wehrhaft und brauchen keinen Hütehund. Ich habe vor zwei Jahren im Oktober beobachtet, wie drei Wölfe über einen Tag mehreren Yaks folgten – im gehörigen Abstand und immer auf der Lauer nach einem schwachen Tier oder einem Kalb, das sich etwas zu weit von Mama entfernt hatte. An ausgewachsene Yaks trauen sich weder Schneeleoparden noch Wölfe heran. Yaks müssen auch nicht gefüttert werden, es sei denn ein extremer Schneefall macht es selbst diesen Urviechern unmöglich, an Gras zu kommen. Yaks verkörpern Wohlstand, sie ziehen den Pflug, geben Milch, sind belastbare Tragtiere bis in Höhen von 6000 Metern, ihre Wolle wird zu Seilen, Decken und Zelten verarbeitet und im Notfall können sie für mehrere Hundert Euro verkauft werden. Kein Tier symbolisiert das Leben der Menschen im Dolpo besser als der „tibetische Grunzochse“.

Wir werden zum Frühstück ins große Zelt eingeladen. Außer in Kombination mit gebratenen Pilzen kann ich Tsampa nichts abgewinnen, mag der Gerstenbrei auch noch so gesund sein. Kunsang erklärt das der besorgten Zeltchefin mit einer bestimmten Unverträglichkeit und ich bekomme wieder den leckeren Yak-Ziegenmilch Reisbrei.

Es ist Mittag und Kunsang und ich brechen unsere Zelte ab. Sie wird noch ein weiter entferntes Camp besuchen und wir warten auf unsere Moped-Piloten, die für die Nacht mal eben zurück nach Chharka gefahren waren! Dann verabschiede ich mich von diesen herzlichen Menschen – nicht ohne noch mehrere Käsebrocken zugesteckt zu bekommen! Einige Frauen sagen zu Kunsang, sie würden natürlich auch zu dem Dorffest kommen! Und ich weiß, dass dies nicht mein letzter Besuch in einem tibetischen Nomadencamp war! Om Mani Padme Hum!

Bei meiner Rückkehr ist Anja wieder auf den Beinen und die Vorbereitung des Festakts im vollen Gang. Wer wissen will, wie in Chharka Bhot ein offizieller Empfang abläuft, mag das im Bambusbrief Nepal Nr.5 ansehen, da habe ich das ausführlich beschrieben. Auch jetzt läuft es nach demselben Muster: Ein Grußwort folgt der nächsten Tanzdarbietung der Schüler, staatstragende Reden lösen Hymne und Volksmusik ab. Diesmal bestehen Frauen aus dem Dorf darauf, mich in eine tibetische Festtracht zu kleiden; ablehnen wäre grob unhöflich und so füge ich mich und lasse mir eine Art goldenes Brokatgewandt überziehen. In Kombination mit meiner Pelzmütze sehe ich aus wie eine Kreuzung aus Dalai Lama und Ivan Rebroff – und ernte anerkennende Blicke der Damenwelt! Wenn`s der Sache dient…

Nachdem wir uns alle gebührend der gegenseitigen Hochachtung und des Dankes versichert haben, übereicht der Verwaltungschef Anja und mir zwei Geschenke: traditionelle Trinkschalen aus Holz mit Silberbeschlägen!

Dann zieht schlechtes Wetter auf. Die Feier mit Tanzen und reichlich Chang fällt ins Regenwasser und enttäuscht verlaufen sich die Dorfbewohner. Allzu traurig bin ich nicht, Kreistänze waren noch nie mein Ding und zu viel Chang macht einen Morgenschädel…

Am nächsten Tag mache ich mit Samdup die Runde zu allen Projekten. Das Waschhaus ist innen gekachelt; in zwei identischen Räumen gibt es Duschen, eine Toilette sowie ein Handwaschbecken und eines zum Waschen von Kleidung. Auch ein Geyser ist an der Außenwand angebracht, die Gasflasche für den Betrieb stiftet großzügig die Distriktverwaltung. Ob damit letztlich warmes Wasser in ausreichender Menge erzeugt werden kann, erscheint mir fraglich – Schüler/-innen, Krankenschwester und Lehrerkollegium machen zusammen hundert Leute aus! Vielleicht ist es besser, das warme Wasser auf Besucher zu begrenzen… Das Design als Passiv-Solar House mit der nach Süden vorgebauten Polycarbonat-Veranda erwärmt die Räume insgesamt auf Gewächshaustemperatur, so dass eine kalte Dusche zumutbar erscheint. Die Dolpo Pa sind ganz was anderes gewohnt!

 

Bei den Toiletten ist noch viel Luft nach oben. 75 sollen es insgesamt werden, die Leute sind aus verschieden Gründen im Verzug: Zum einen war das Wetter schlecht, dann ging die Ernte vor und schließlich habe die jährliche Suche fast der gesamten Dorfbevölkerung nach Yerdse Gumbu  (Chinesischer Raupenpilz, siehe Bambusbrief Nepal Nr.5) dieses Jahr länger gedauert. Samdup beruhigt mich: Die Leute wüssten, was sie zu tun hätten und Dolpo Pa nähmen Versprechen ernst: „The toilets will all be ready by the end of this season!“ Bei den schon kompletten Toiletten fällt mir auf, dass bei keiner das Entlüftungsrohr über das Niveau des Daches ragt – muss es aber, um einen Kamin-Effekt zu bewirken. Und zu gering im Querschnitt sind die Rohre auch. Da sei in seiner Abwesenheit etwas falsch gelaufen, meint Samdup und verspricht, das korrigieren zu lassen. Insgesamt machen die Toiletten einen sehr soliden Eindruck und mehrmals bedanken sich Leute bei mir für die Unterstützung der Bambusschule. Samdup ist sich absolut sicher: „They all will use their toilets once they are ready!“ Zusätzlich reize auch die Aussicht, mit einer Toilette am Haus Tagesgäste für ein Homestay gewinnen zu können – gegen Bezahlung, versteht sich.

 

Speziell für Anja hält Samdup an unserem letzten Tag in Chharka etwas ganz Besonderes bereit: Er geht mit uns in die Altstadt. Schon das Betreten dieses Komplexes mit seinen durch Innenhöfen verbundenen, an jemenitische Festungen erinnernden alten Steinhäusern ist eine Zeitreise: Tibet im Mittelalter muss so ausgesehen haben!

In den Innenhöfen lagert Futter für Pferde und Mulis und allerlei verschiedenes Gerät. In die Häuser gelangt man durch niedrige Holztüren, abzuschließen mittels handgeschmiedeter Schlösser. Die kleinen Fenster sind mit farbenfrohen Holzrahmen eingefasst, meistens noch kunstvoll geschnitzt. Samdups Onkel und Tante wohnen im ältesten dieser dreistöckigen Wohntürme und er hat eine Einladung in ihr Haus organisiert! Der Onkel empfängt uns unten im Hof („Tashideleks!“) und bittet uns herein.

Die Zeitreise setzt sich im Inneren des Hauses fort: Um in den ersten Stock zu gelangen (im Parterre werden Nahrungsmittel gelagert), müssen wir eine traditionelle tibetische Leiter bewältigen: In einen Baumstamm hat man Stufen gehackt und den Stamm so schräg gestellt, dass die Tritte genau parallel zum Boden sind. Das puristische Design lässt allein aus ästhetischen Gründen kein Geländer zu und so ist für uns Ungeübte diese „Leiter“ eine Herausforderung – zumal die Stufen von Generationen von Füßen glattpoliert sind und wir unsere Schuhe natürlich unten gelassen haben.

Der zentrale Raum ist Küche, Wohnzimmer und Schlafraum zugleich, in der Mitte wie immer der Ofen, eingefriedet von Steinen. An den Seiten sind niedrige Sitzbänke mit Kissen angebracht, hier und auf dem Boden schläft die mehrköpfige Familie. Es gibt Holzschränke und natürlich einen Altar – immer sehr verziert und bunt bemalt, alles atmet Tradition und Wohlstand. Samdup bestätigt uns: Arm ist die Familie nicht, sie haben viele Yaks und eine große Ziegenherde, dazu kommen noch die Felder in Dorfnähe. Seine Tante hockt am Feuer und wärmt Chang auf, Samdup hat wissen lassen, dass Bodo das lokale Bier am liebsten warm trinkt. Inzwischen serviert uns der Onkel – bestimmt über 70, aber die Leiter hochgeturnt wie ein junger Mann – Buttertee. An jeden Tassenrand klebt er ein kleines Stück Yakbutter – Tribut für die Götter. Das Ehepaar ist sehr interessiert und lässt über Samdup nach allem Möglichen fragen: woher wir genau kommen, wie uns Dolpo gefällt und ob wir wiederkommen, wie viele Kinder und so weiter. Nach mehreren Tassen Buttertee und Gläsern mit warmem Chang sollen wir auch noch den hausgemachten Rakschi probieren (selbstgebrannter Reisschnaps). Aber hier bleiben wir standhaft – wir müssen diese Leiter ja auch noch absteigen!

So schnell entkommt man tibetischer Gastfreundschaft aber nicht: erst geht es ein weiteres Stockwerk hoch aufs Flachdach! Ein toller Ausblick bietet sich uns: Das Haus ist das höchste im Dorf und wir überblicken ganz Chharka Bhot, die beiden Flüsse, die hier zusammenfließen, die Felder und ganz am äußeren Rand den Schulkomplex. Aus mehreren Häusern steigt Rauch in die Nachmittagssonne (heute mal kein Regen) und am Horizont leuchten die Eisspitzen der Dhaulagiri Ausläufer. Ein Bild nicht ganz von dieser Welt! Das Dach ist ringsum eingefasst von einer halbhohen Mauer, die wie bei allen Häusern, auch den neuen, gekrönt wird von einer etwa 50cm dicken Lage trockenen Reisigs. Ich dachte bisher, das sei Feuerung für den Ofen. „Ja, auch,“ meint Samdup, „Aber wichtiger ist, dass die Familie genug Brennmaterial hat, falls einer stirbt.“

Ob die Leiche verbrannt wird oder im Rahmen einer „Luftbestattung“ entsorgt, entscheidet der Llama nach nur ihm verständlichen kosmischen Zeichen. Die Luftbestattung ist jedenfalls ökologisch unbedenklicher: Besagter Lama zerlegt den Toten fachgerecht (natürlich mit einem heiligen Messer), dann werden die Teile außerhalb des Dorfes auf einer Steinplatte ausgebreitet und den Geiern und Rabenvögeln dargeboten. Verwandte, die die Totenwache übernehmen, halten Hunde und Raubtiere fern. Sind nach kurzer Zeit nur noch die Knochen übrig, zertrümmert der Lama diese mittels eines (heiligen) Hammers und übergibt das Knochenmehl dem Fluss. Ein sehr sympathisches Verfahren, finde ich.

Das Beste kommt wie meistens zum Schluss: Stolz schließt uns der Onkel das Allerheiligste auf: den Puja Raum. Wir betreten ein kleines Zimmer, voll mit Paraphernalien eines gelebten tibetischen Buddhismus: Dämonenmasken, uralte heilige Textrollen, Wandmalereien diverser Bodhisatvas, und eine große Trommel samt Schlegel. Über allem weht der Duft unzähligen hier im Laufe von Jahrzehnten abgebrannten Räucherwerks und verstärkt noch einmal den Eindruck, dass die Menschen hier ihren Glauben tatsächlich leben…

Irgendwie kommen wir die Leitern tatsächlich wieder runter und verabschieden uns von Samdups Onkel und Tante – ich nehme mir vor, fürs nächste Mal ein Geschenk mitzubringen.

Auf dem Rückweg durch die Innenhöfe kommen wir nicht weit. Natürlich ist unser Besuch nicht unbemerkt geblieben: weitere Verwandte bestehen auf der Ehre unserer Einkehr! Eine Ablehnung würde Samdup in ein ganz schlechtes Licht stellen und das wollen wir natürlich nicht! Also noch zweimal die Leitern hoch zu Buttertee und Chang!

Als wir das letzte gastliche Haus verlassen, ist es stockdunkel, aber Samdup kennt hier jede Ecke und alle Hunde mit Vornamen. Auf dem Weg zur Schulküche und unserem Abendessen begegnen uns Sange und sein Assistent („Tashideleks!“); sie kommen gerade von einem Privatauftrag zurück. Der Auftraggeber war wohl sehr zufrieden, stolz zeigt Sange uns eine große Plastikflasche: „He gave us fresh Chang for tonight!“ Der weitere Verlauf des Abends tut hier nichts zur Sache…

„Dolma also would like to ride a horse.“

Das ist sicher ein weiser Entschluss. Für Jangbus Frau war der Hinweg eine große Quälerei gewesen und besonders der gefährliche Teil zum Schluss hatte ihr sichtlich zugesetzt.

Unser letzter Tag im Dorf ist ausgefüllt durch Gespräche mit Kunsang, den Lehrern und Sange, dem genialen Tischler und Zimmermann. Ich bespreche mit Samdup die eine und andere Einzelheit der laufenden Projekte und wir diskutieren über das nächste Vorhaben: Eine neue Schulküche ist dringend nötig, die jetzige platzt aus allen Nähten und ist zugig.

Dann werden wir Zeugen von Basisdemokratie a la Dolpo: das Auslosen der drei Pferde für unsere Gruppe. Die Benutzung der Pferde muss natürlich bezahlt werden, also macht der jeweilige Besitzer ein gutes Geschäft. Pferde gibt es viele in Chharka und wer soll entscheiden, an wen der Gewinn gehen soll? Das Los! Eine Plane wird auf dem Boden ausgebreitet und umringt von allen Pferdeeignern ruft ein junger Mann einen Familiennamen auf. Anschließend wirft er zwei Würfel und notiert sich die laut genannte Augenzahl. Das geht so weiter, bis hinter jedem Namen eine Zahl steht – die drei höchsten bezeichnen die Gewinner, also die Familie, deren Pferd einer von uns reiten und bezahlen wird.

Sehr transparent, sehr fair. Aber dann geht eine lebhafte Diskussion los, in die sich auch Samdup einklinkt. Nach einigem Hin und Her scheint alles geklärt zu sein und die Leute gehen auseinander, einige scheinen erheitert. Samdup erklärt mir den Hintergrund: Einer der Losgewinner war ein notorischer Trinker, bekannt für seine Unzuverlässigkeit. Samdup hatte zu bedenken gegeben, dass es bei der Tour nicht um den Transport von Zement gehe, sondern Gäste des Dorfes sicher zurückgebracht werden müssten. Das fand Gehör und die Einigung findet unsere uneingeschränkte Zustimmung: Der Gewinner erhält die Hälfte des Honorars für sein Pferd, die andere Hälfte geht an den Pferdeführer – und das ist…unser aller Freund Tashi Tharke!

Am Abend vor unserer Abreise füllt sich die Schulküche wieder und wir feiern mit unseren Freunden das letzte Abendmahl, natürlich mit gehörig viel Chang.

Sehr früh verlassen Anja und ich am nächsten Morgen unsere Gastfamilie und machen uns noch einmal auf durchs Dorf zur Schule. Vorbei an Kindern, die sich vor der Schule an der Wasserstelle die Zähne putzen („Tashideleks!“) und an den vor den Häusern dösenden Hunden („guten Morgen, Leo!“).

Im Schulhof warten schon die Mulis und ihr Chef, Andip Buda; Tashi Tharke ist da mit drei Pferden und Jangbu hat mit Ningsang und Dolma die Trekkingküche abgebaut. Bis alles fachgerecht auf den Mulis verzurrt ist, bleibt genügend Zeit zum Abschiednehmen. Alle sind gekommen: Lehrer und Lehrerinnen, mehrere Dorfbewohner, viele Schüler, der Koch, und der Verwaltungschef bittet um meine Visitenkarte.  Und natürlich Schwester Kunsang. Von ihr fällt mir der Abschied schwer. Alle anderen werde ich wahrscheinlich bei meinem nächsten Besuch wiedersehen, Kunsang nicht. Sie wird nach dieser Saison versuchen, ihre Ausbildung mit einem Master zu krönen, am liebsten würde sie dazu in England studieren. Diese kleine zierliche Frau mit der Riesenbrille hat in den drei Jahren Großartiges für die Menschen in und um Chharka Bhot geleistet und das unter sehr harten Bedingungen! Ich hoffe, dass ihr das sehr gute Zeugnis der Bambusschule für ihre Zukunft helfen wird…

Bevor wir aufsitzen, werden uns noch mehrere Katas umgehängt und Samdup reckt den Daumen hoch – los geht`s!  In der Altstadt geht der Blick noch mal hoch zu den Zinnen mit Yak Schädeln und immer wieder hören wir das vertraute „Tashideleks!“  Ich glaube, auf einem Pferd durch Chharka zu reiten, gefällt mir besser als auf einem Esel durch Jerusalem…

Dann liegt das Dorf hinter – und die Pässe wieder vor uns! Aber noch schaukeln wir zu Pferde durch die grandiose Landschaft, noch scheint die Sonne und neben uns rauscht der Fluss. Dolma macht eine gute Figur bei ihrem allerersten Ritt – sie sitzt auf dem Pferd, als hätte sie nie etwas anderes gemacht! Jangbu und Ningsang laufen, der Mulimann sowieso und Tashi Tharke macht wieder Anjas Ponyführer – die Sicherheit seiner Schutzbefohlenen liegt ihm sehr am Herzen! So geht es stetig bergan und nach zwei Stunden erreichen wir die Stelle, von wo wir noch einmal einen Blick auf Chharka werfen können, dann ist das Dorf Geschichte.

Als wir die Yakwiese für unsere kurze Mittagspause erreichen, hat sich der Himmel grau bezogen.

Mehr Sorgen macht unseren Guides der hohe Wasserstand des Flusses. Normalerweise kann man die Furt an dieser Stelle ohne Weiteres sogar zu Fuß durchqueren, jetzt ist das Wasser einen halben Meter höher und die Strömung unfreundlich stark. Die Mulis werden zuerst durch den Fluss getrieben; die Bäuche und damit auch unsere Rucksäcke tauchen tief ein. Diesmal haben wir vorgesorgt und unsere Sachen zusätzlich in Plastiksäcke verpackt…

Die Mulis stemmen sich gegen die Strömung und tasten sich langsam ans andere Ufer; ihr Herr und Gebieter hält sich am letzten Tier fest und wird nahezu komplett nass. Wir drei Reiter ziehen unsere Schuhe und Socken aus und hängen sie uns um den Hals…

… die Hosenbeine hochgekrempelt reiten wir dann in den Fluss, den Mulis hinterher. Ich spüre, wie die Strömung meinem Pferd zu schaffen macht, bitte jetzt nicht ausrutschen, Songduk! Tut er nicht und auch alle anderen kommen heil ans andere Ufer; Ningsang wird extra von Tashi abgeholt und an die Hand genommen… er kann nicht schwimmen!

Es beginnt zu regnen. Nicht stark, aber anhaltend und der Himmel verspricht, damit so schnell auch nicht wieder aufzuhören. Wir tragen unsere kompletten Regengarnituren – und nach kurzer Zeit höre ich Anja hinter mir fluchen: „So viel Geld und so ein Schrott! Verklebte Nähte! Wasserdicht, von wegen!“

Der Regen läuft ihr wohl überall rein… einigermaßen Abhilfe schafft ein übergezogener blauer Müllsack, in den ich für Kopf und Arme Löcher schneide – ästhetisch äußerst fragwürdig, aber so bleibt wenigstens die obere Anja trocken!

Es ist jetzt alles grau in grau, der anhaltende Regen kalt, von den Bergen im Hintergrund ist wieder nichts zu sehen – die Stimmung ist entsprechend. Das ändert sich, als wir den Fuß des ersten Tuje Passes erreicht haben. Diese Seite hat einen deutlich sanfteren, wenn auch längeren Anstieg und Tashi Tharke meint: „You can ride, if you want!“ Und ob wir wollen! Der Boden ist wieder dieser schmierige Schieferschlamm, aber die Pferde kommen damit recht gut klar, weil es nicht so brutal steil ist.

Kurz vor dem Gipfel kommt uns eine Mulikarawane entgegen;

sie hat Material für die Schulprojekte in Chharka geladen und weil sie bergab gehen, sind sie uns „ausweichpflichtig“. Ihr Führer treibt sie einfach einige Meter bergan und wir passieren sie, ohne auch nur anzuhalten. Vielleicht war das der Ehemann der Frau, bei der ich die leckeren Pilze gegessen hatte?

Auch diesmal halten wir uns nicht auf mit Gipfelfotos; die Sichtweite ist eh sehr begrenzt. Bergab müssen wir laufen, es ist sehr rutschig. Der Weg verläuft in engen Serpentinen und die Tiere folgen ihnen auch; Jangbu meint, man könne es wagen, auf direktem Wege runterzugehen und doppelt so schnell unten sein. Das klingt verlockend und wir laufen los: Die Hacken zuerst in den weichen Schiefermatsch stemmen und den Körper im richtigen Winkel schräg stellen, geht es wirklich rasant den Berg hinab! Nur jetzt nicht fallen! Anstrengend ist diese Methode auch, aber bevor wir das richtig merken, sind wir unten und beobachten unsere Mulis und Tashi mit den Pferden, wie sie sich Kurve um Kurve der Talsohle nähern.

Es regnet unentwegt. Es ist schon weit nach Mittag und Jangbu fragt, ob wir jetzt das Camp aufschlagen oder weitergehen wollen zum „Hotel“.  „Let`s go on to the Yak Hotel!“, ist die einhellige Meinung und ich merke Jangbu an, dass er erleichtert ist, nicht im Regen Küche und Zelte aufbauen zu müssen. Also aufgesessen und weiter im Schritt!

Wenn der Weg an sich keine Freude macht, die Umgebung im Grau verschwindet und der Regen einem ins Gesicht schlägt, dann hat jeder Kilometer mehr als tausend Meter. Die Strecke will kein Ende nehmen, allmählich meine ich, hinter jeder neuen Biegung müsse endlich dieses Zelt-Hotel auftauchen – jedes Mal Fehlanzeige.

Irgendwann, es beginnt schon zu dämmern, sehen wir plötzlich das weiße Küchen-, Wohn- und Restaurantzelt vor uns.

Runter von den Pferden, Tashi wird sich schon um sie kümmern, und nichts wie rein in die Wärme! Die „Herbergsmutter“, eine recht substantielle Dolpo-Frau, sitzt am Ofen und füllt sofort Tassen mit Buttertee für uns. Wir pellen uns aus unseren Regensachen und hängen sie auf der Leine auf, wo sie vor sich hin tropfen. Anja ist trotz ihres Halloween Outfits (blauer Müllsack) mehr feucht als trocken und hockt sich möglichst nahe an den Ofen. Man kann sich nirgends anlehnen, es ist alles andere als bequem – aber warm und trocken.

Vier Männer waren schon vor uns da und haben sich wohnlich eingerichtet: Auf Matratzen liegend, zugedeckt von bunten Polyesterdecken aus China, spielen sie Karten und rauchen. Mehrere leere Bierflaschen liegen auch dekorativ um die Gruppe verteilt – in diesen Höhen soll man bekanntlich viel trinken…

Der Buttertee tut seine Wirkung, wir frieren nicht mehr. Jangbu und vor allem Ningsang der Küchenhelfer sind trotz enormer Laufleistung guter Dinge: sie müssen nichts aufbauen und nichts kochen. Das macht die Schwiegertochter der Zeltchefin, wie auch alle anderen Arbeiten an sie delegiert werden – Hierarchie schafft Ordnung im Zelt. Inzwischen sind auch Tashi Tharke und unser Mulimann an den Ofen gerückt; es wird eng. Jangbu hat für uns Eintopf bestellt, alle anderen essen – klar: Dal Baht Tarkari (Linsen, Reis, Gemüse).

Olfaktorisch ist das Zeltinnere jetzt ein komplexes Erlebnis: Vorherrschend ist eine Herznote von nassen Hosen und Socken, darunter mischen sich deutliche Akzente von verbrennendem Yakdung und ein Hauch von Pferd, unverkennbar sind ungewaschene Körper und frischer Schweiß, im Abgang ein langanhaltender Duft von angebratenen Zwiebeln und Zigaretten…Und doch ist der Duft noch nicht ganz rund – was fehlt, ist nasser Hund!

Dann ist das Essen fertig und es schmeckt uns nach diesem Tag besser als manches fünf Gänge Menü! Daran ändert auch nichts, dass sich die Köchin nach Landessitte ihre Tropfnase mit den Fingern und diese dann an ihrer Schürze abwischt…

Satt und müde muss die Frage nach dem Wo der Übernachtung geklärt werden. „You all sleep here, very warm!“ meint die Herbergsmutter wohlwollend zu Anja und mir. Ja, sehr warm, glaube ich gerne! Zwölf Menschen schlafen in dem Zelt, da braucht es keinen Ofen mehr!

Jangbu, der mein Zögern richtig interpretiert, fragt nach Alternativen. Die Schwiegertochter führt uns draußen zu einem dieser schwarzen Yakzelte. „Can sleep here, no problem!“ Vielleicht hält sie Anja und mich für ein jungvermähltes Paar auf Hochzeitsreise, das etwas Privatsphäre braucht? Egal, Hauptsache nicht eine Nacht in dem miefigen Küchenzelt! Das Yakzelt ist eigentlich ein Lagerraum, mehrere Säcke unbekannten Inhalts türmen sich neben diversen Decken und Planen, Seile liegen herum und Plastikkanister. Mit Jangbus Hilfe schaffen wir notdürftig Platz für unsere Liegematten und nassen Packsäcke. Waschen wird überbewertet, aber Zähneputzen als das letzte Bollwerk abendländischer Hygiene muss unter allen Bedingungen sein! Danach schließen wir das Yakzelt und kriechen in unsere Schlafsäcke. Ein Scheißtag hat ein gutes Ende gefunden!

„Hast du die Mäuse heute Nacht auch gehört? Die sind direkt über meine Plane gelaufen!“ Anja hatte zuletzt noch eine dieser goldfarbenen Rettungsdecken aus Aluminium über unsere Schlafsäcke gelegt, weil sie der Wasserdichtigkeit des Yakzeltes nicht traute. Nein, ich habe nichts gehört – und wenn auch, wären mir auch Ratten völlig egal gewesen nach dem Tag…

Wenigstens hat es aufgehört zu regnen. Im „Restaurant“ gibt es Frühstück, Käseomeletts für uns, die anderen essen – genau! Die vier Männer machen sich bereits startklar; sie warten hier seit vier Tagen auf besseres Wetter und wollen in ein Dorf noch weit hinter Chharka…

Vor uns liegt der andere Tuje Pass, der uns auf dem Hinweg so viel abgefordert hatte. Auch dieser Pass ist von der Chharka zugewandten Seite nicht extrem steil, wieder können wir bis zum Gipfel reiten!  Hier hängen wir nun doch unsere Katas zu den vielen anderen an die kleine Steinpyramide – wer weiß, wozu es gut ist…

War der Weg nach oben auf den Pferden entspannt, ist der Abstieg alles andere! Hier geht nichts mit direkt nach unten laufen, dazu ist es viel zu steil und zu glatt. Wir gehen jede einzelne Kehre mühsam mit lehmschweren Schuhen runter, dabei immer mit einem Stock nach abwärts sichern, damit man nicht das Gleichgewicht verliert. Allmählich werden mir die Knie weich und die allgemeine Erschöpfung wird so groß, dass ich alle 10 Meter eine Atempause machen muss. Dolma hat auch schwer zu kämpfen und selbst Jangbu räumt ein, dass er sein Alter merke – 54 ist der Hüpfer!

Nie ist mir ein Abstieg so lang vorgekommen, selten war ich so geschafft, als wir endlich unten sind! Siehe dazu den Anfang dieses Briefes…

Die Nacht in dem Mulistall war nicht besonders erholsam und es ist auch abends keiner mit Weihrauch und Myrrhe gekommen… Und mit „endlich unten“ stimmt es auch nicht wirklich: Von hier, dem sogenannten „Tuje Base Camp“, geht es ja noch ein gutes Stück tiefer hinab zum Fluss – und dann wieder steil hoch zum Lagerplatz, erst ab da können wir wieder reiten.

Ich erspare jetzt allen Lesern weitere Schilderungen unseres Leidens, irgendwann gehen einem die Adjektive aus – und schließlich hat uns ja niemand dazu gezwungen…

Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, jemals so erleichtert vom Pferd gestiegen zu sein, wie im Dorf Sangda! Wir schenken uns eine weitere Nacht in Zelten und mieten uns ein in der Lodge – nach Bier zum Abendessen fallen wir in einen tiefen, mäuselosen Schlaf.

Anja schenkt Tashi Tharke, ihrem Ponyführer, die Pferde-Packtasche: „Die brauche ich nie mehr!“

Dolpo Pa sind, was Emotionen angeht, sehr zurückhaltend; Tashi bedankt sich kurz und legt die Tasche beiseite. Ich weiß von Samdup, dass so eine Packtasche etwas wie Weihnachten und Ostern an einem Tag ist, und wenn jemand das verdient hat, dann Tashi!

Zum Abschied schenkt er uns ein Lächeln und lässt den Goldzahn blitzen, dann kümmert er sich um seine Pferde. Einen Tag wird er noch in Sangda bleiben, anschließend geht es wieder zurück nach Chharka Bhot, über Tuje 1 und 2 und durch die Flüsse!

Für uns fühlt es sich jetzt an wie Urlaub: Im Jeep bei gutem Wetter durch eine wilde Landschaft gefahren werden, vorbei an Yak- und Ziegenherden, mit gelegentlichem Blick auf die Annapurna Kette, nähern wir uns Jomsom. Wieder halten wir vor der Tillicho Lodge, beziehen wieder dieselben Zimmer, wie bei unserer Ankunft aus Pokhara vor … gefühlt einem Jahr!

Unser Guesthouse liegt unmittelbar am Flugplatz, ich gehe auf die Dachterrasse und sehe auf der Rollbahn zwei schlafende Hunde liegen – besser lässt sich der aktuelle Flugverkehr nicht beschreiben!

Nach einer – warmen! – Dusche und hervorragendem Essen a la Carte (unsere nepalesischen Freunde essen allesamt dieses bestimmte Gericht aus Linsen, Reis und Gemüse), gehen wir schlafen in der Vorfreude auf eine entspannte Rückfahrt nach Pokhara. Little did we know…

Zum letzten Mal auf dieser Reise wird ein Jeep bepackt. Diesmal ist es ein großer Pickup, die Ladefläche bis in den letzten Winkel vollgestopft mit unserem Gepäck und Trekking-Utensilien, wir finden gerade noch in der Kabine Platz. Unser Fahrer für den heutigen Tag heißt Manudsch, von seiner Erscheinung her könnte er auch als pakistanischer oder iranischer Intellektueller durchgehen: Jeans, weiße Turnschuhe, weißer Pullover, die schwarzen Haare durchsetzt mit ersten Silberfäden…

Es regnet nicht – wie froh sind wir doch mittlerweile über kleine Dinge! Die „Straße“ ist die ersten 20 Kilometer unspektakulär, jedenfalls sehen wir das so inzwischen. Die paar Schlaglöcher, einige überschwemmte Stellen – solange uns nichts aufs Autodach fällt, ist alles im grünen Bereich.

Wir erfahren, dass Manudsch 12 Jahre in Qatar war, einige Zeit davon als Fahrer von Toyota Landcruisern und wegen „business reasons“, nicht näher spezifiziert. Seine Praxis als Fahrer mag die Souveränität erklären, mit der er den Jeep handhabt – auffällig ist seine Sorgfalt und Umsicht im Umgang mit dem Auto. Auf Nachfrage erklärt er das gerne: „The car is my own, I make my living by driving it.“ Die Fahrer dieser Autos, ausnahmslos solche aus indischer Produktion von der Marke „Mahindra“, arbeiten sonst im Auftrag von Agenturen und bekommen für ihre Dienste ein mageres Gehalt, und das auch nur für die tatsächlich gefahrenen Strecken.

Nach einer Stunde machen wir eine Teepause. Wie alle professionellen Kraftfahrer weiß Manudsch genau, wo es auf der Strecke das beste Frühstück gibt: „Usually I do Jomsom-Phokara twice a week!“ Der Mann muss nicht rot werden für sein Geld!

Entspannte Tour durch schöne Landschaften? Von wegen! Ich hatte ja bereits beschrieben, wie „abwechslungsreich“ die Hinfahrt war – was wir auf den kommenden 50 Kilometern erleben, ist auch für unseren Fahrer keine Routine! Ich will keinen Leser unnötig mit Wiederholungen von Steinschlägen, Erdrutschen und Überschwemmungen langweilen und verzichte hier auf eine detaillierte Aufzählung der einzelnen Vorfälle. Der wesentliche Unterschied zur Hinfahrt besteht darin, dass wir jetzt diese Ereignisse „life“ erleben: Während wir langsam durch die Auswaschungen und Löcher schaukeln, rutscht es von oben nach und wir beobachten einen Wasserfall nicht nur, wir fahren direkt unter ihm hindurch!

An einer Stelle sehe ich aus den Augenwinkeln das Wrack eines Jeeps am Straßenrand, völlig eingedrückt – der Steinschlag muss ganz frisch gewesen sein! Wir wollen bloß noch hier weg!

Manudsch sitzt völlig aufrecht hinter dem Steuer, der ganze Mann nur Konzentration. Der Kali Gandaki an der jetzt linken Seite führt Hochwasser und für einen Animisten wären das Wellen wütender Götter, die da schlammbraun durch die enge Schlucht toben… Wir sind alle sehr angespannt und nur in den Zwangspausen, wenn wir wieder mal auf einen Bagger warten müssen, nehmen wir bewusst wahr, durch welch eine tropische Üppigkeit die Piste führt…

Als dann spät am Nachmittag Manudsch sagt „Now it`s over! From here on no more trouble!“ atmen alle auf. Das Tal öffnet sich, die Besiedlung nimmt zu und der Verkehr wird dichter. Es dämmert, als wir das Diamond Lake Hotel in Pokhara erreichen und im Garten noch ein Bier mit unserem Fahrer trinken. Der Dank an ihn ist keine bloße Redewendung und ich lasse mir seine Telefonnummer geben: „Next time I want only you for that ride, Manudsch!“ Er nimmt`s zur Kenntnis und besteigt seinen Jeep, wenn es gut klappt, hat er morgen Fahrgäste für die Tour nach Jomsom! „Usually I do it twice a week!“  Ein Held der Landstraße? Ja, und völlig zu Recht!

Jangbu, Dolma und Ningsang verbringen den nächsten Tag mit der Suche nach einer Möglichkeit, samt der ganzen Ausrüstung nach Kathmandu zu gelangen. Anja und ich haben „Zeit zur freien Verfügung“. Währen Anja sich zu einem Raubzug durch die Geschäfte aufmacht, lasse ich mich durch die Ecken der Stadt treiben, die ich noch nicht kenne. Bei einem Motorradverleih spreche ich einen jungen Mann an, der seine Royal Enfield putzt. Ich finde diese indischen Nachbauten einer englischen Legende mit ihrem typischen Blubbersound klasse; jedes Mal in Nepal kämpfe ich mit dem Impuls, mir in Deutschland auch so eine Maschine zu kaufen… jedes Mal hat leider bisher die Vernunft gewonnen. „Would you drive me around for two hours on your bike?“ frage ich spontan den Mann. Wo ich denn hin wolle? „Up to the Shiva temple!“ Diesen Tempel kann man von überall her sehen in Pokara und gerade jetzt scheint die Sonne! Er habe nichts zu tun und nennt mir einen sehr angemessenen Preis – Helm auf und los geht`s! Was folgt, ist für mich ein weiteres Highlight dieser Reise: Surya ist mit seiner Enfield Himalaya völlig eins, ich fühle mich absolut sicher und kann den Ritt auf den Berg uneingeschränkt genießen. Er macht das professionell, in der Saison führt er Motorradgruppen aus aller Welt auf Pisten durch den Himalaya! Ist die Fahrt allein schon adrenalingeschwängert, macht der Blick vom Shiva Tempel euphorisch: Einen kompletten Rundumblick über den Phewa See, die Stadt und auf den heiligen Berg Machapuchare (6997m, Besteigen verboten, auch für Reinhold) – ich will hier gar nicht weg!

  

Anja und ich fliegen nach Kathmandu zurück und landen nach 30 Minuten, Jangbu, Dolma und Ningsang sind 11 Stunden im Auto unterwegs!

Wieder im Hotel Utse angekommen, ist „Mama“ Utse entsetzt, als sie mich sieht: „You so thin! Trekking was very hard?“ Sagt´s und lädt uns abends zu einem „Tibetischen Feuertopf“ ein. Sie muss wohl recht haben, die nächsten zwei Tage ist meine Hauptbeschäftigung ESSEN!

     

Ganz zu Ende ist „Dolpo 23“ noch nicht: Ein Besuch in der Deutschen Botschaft steht an. Ich kenne Konsul Czaja von einem Treffen vor zwei Jahren: Er hat das Zuschussverfahren in Sachen Waschhaus betreut und war sehr an unserer Arbeit interessiert. Auch heute nimmt er sich trotz übervollen Terminkalenders viel Zeit und lässt mich ausführlich von unseren Erlebnissen berichten. Beim Abschied kündige ich an, demnächst wieder mit einem Antrag auf Förderung vorstellig zu werden – die Schulküche gilt es zu stemmen. „Stellen Sie mal den Antrag, dann prüfen wir das.“ Er ist Diplomat, der Konsul Czaja, ein netter!

„Dolpo Tomorrow“ hat ein kleines Büro in Kathmandu und dort treffe ich Miss Jenny, die Teilzeit-Buchhalterin von Samdups Verein. Ich gehe mit ihr die einzelnen Positionen für das Toilettenprojekt durch und mir wird deutlich, wie groß die Ähnlichkeit zur „Bambusschule“ ist:

Hier wie dort gibt es jemanden, der umtriebig Ideen produziert, Leute bewegt und Gelder einwirbt – alles gut und wichtig! Aber ohne Menschen wie Jenny und die Kassenführerin bei uns wäre nichts davon praktisch umzusetzen bzw. alles würde im Zahlenchaos versinken!  Jenny muss noch einige Ergänzungen einarbeiten und verspricht, den Ordner mit allen Unterlagen abends bei Jangbu abzugeben… Am nächsten Tag geht unser Flieger.

Der letzte Abend verläuft nach bewährter Tradition: Jangbu und Dolma laden ein zum abendlichen Momo-Mahl. Die beiden wohnen seit einigen Jahren im eigenen Haus in einer sehr respektablen Wohngegend von Kathmandu: gepflasterte Straßen, Müllabfuhr, kein Verkehrslärm! Der Kauf des Hauses war die beste Investition, die Jangbu tätigen konnte! Durch das Vermieten eines Stockwerks trägt es sich fast ganz. Ich habe meinen Freund als einfachen Träger aus einem winzigen Dorf am Mt. Everest kennengelernt – jetzt ist er stolzer Hausbesitzer, seine beiden Töchter sind Krankenschwestern, eine in Berlin, die andere in Melbourne! „Very far away, yes, but the main thing is they are happy!“ Solch eine Einstellung ist in dieser Kultur alles anders als selbstverständlich!

Jenny kommt passend zu den Momos – Dolma macht die super! – und Jangbu schenkt eifrig warmen Chang nach. Diesmal gelingt es mir, die eigenen Grenzen rechtzeitig zu erkennen!

 

Beim letzten Abschied am Taxi gibt es außer „Worche!“ (Tibetisch für Danke) nichts mehr zu sagen, Dolma und Jangbu winken uns noch nach, bis wir um die Ecke biegen… Im Mai will er wieder nach Deutschland kommen, seine Freunde besuchen. Om Mani Padme Hum!

P.S.: Die beiden Mopedfahrer, denen ich meine Wanderstöcke geliehen hatte, damit sie durch den Fluss kämen, haben die Stöcke am nächsten Abend spät in der Schulküche in Chharka abgegeben…